Intruder 3
noch mehr Wasser ins Gesicht und tastete anschließend halb blind nach einem Handtuch.
Natürlich war keines da; nur eines dieser ach so praktischen Heißluftgebläse, die nicht eben dazu geeignet waren, sich das Gesicht zu trocknen. Er fuhr sich mit dem Unterarm über Augen und Stirn und blinzelte in den Spiegel, konnte aber nicht richtig sehen, weil er vermutlich noch immer Wasser in den Augen hatte.
Er blinzelte noch einmal, und sein Blick klärte sich, allerdings nicht ganz. Sonderbarerweise blieb der Spiegel leicht verschwommen. Dann lief eine rasche, wellenförmige Bewegung über das silberbeschichtete Glas, und aus dem Spiegel wurde ein Fenster.
Es geschah so schnell und auf sonderbare Weise undrama-tisch, dass Mike im ersten Moment gar nicht begriff, was er sah, sondern nur verblüfft in den winzigen, bis unter die Decke voll gestopften Raum starrte, der sich dort erstreckte, wo eigentlich sein eigenes Spiegelbild und das des Restroomssein 43
sollten.
Jetzt blickte er in den Motorradladen, in dem sie vorhin gewesen waren. Der Harley-Mann saß oder stand hinter seiner selbst gezimmerten Theke - so genau war der Unterschied nicht zu erkennen - und rauchte. Der Laden schien irgendwie kleiner geworden zu sein; was aber vermutlich nur an der seltsamen Perspektive lag, aus der heraus Mike ihn betrachtete - ungefähr von der Stelle aus, an der die Indianersammlung des Fettsacks hing, allerdings von einer Position fast unmittelbar unter der Decke. Ungefähr von dort aus, wo das Indianerfoto hing, schätzte er. Seine Fantasie begann ihm allmählich wirklich sonderbare Streiche zu spielen ...
Harley-Davidson drückte seine Zigarette in den umgedrehten Zylinderkolben, der ihm als Aschenbecher diente, und zündete sich praktisch in der gleichen Bewegung einen neuen Glimm-stängel an. Mike fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die plötzlich trocken und rissig waren. Er verspürte Appetit auf eine Zigarette ... nein, keinen Appetit.
Gier.
Unvorstellbare, fast körperlich schmerzende Gier. Bis jetzt war es ihm unerwartet leicht gefallen, auf das Rauchen zu verzichten. Aber das Verlangen war die ganze Zeit über da gewesen, und jetzt sprang es ihn an wie eine Spinne, die geduldig und lautlos in ihrem Netz gelauert hatte, bis sich ihre Beute endgültig und hoffnungslos in den klebrigen Fäden verstrickt hatte. Er brauchte eine Zigarette. Jetzt!
Auf der Seifenschale neben dem Waschbecken lag eine Schachtel West.
Das war vollkommen verrückt. Gerade hatte dort noch ein Stück Seife gelegen. Zigarettenschachteln tauchten nicht einfach aus dem Nichts auf, nicht einmal in Amerika! Soviel er wusste, gab es diese Marke hier noch nicht einmal. Nein, das musste Einbildung sein. Das Ding neben ihm war und blieb das, was es die ganze Zeit über gewesen war: ein Stück Seife.
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Seine Fantasie spielte ihm bloß einen Streich.
Aber es wirkte so unglaublich real!
Und er brauchte eine Zigarette. Unbedingt. Er würde sterben, wenn er nicht innerhalb der nächsten Sekunden eine Zigarette bekam!
Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, streckte er die Hand aus und ergriff das Stück Kernseife. Es fühlte sich sogar wie eine Zigarettenpackung an, kühl und glatt, appetitlich aufgeris-sen wie in einer Kinowerbung, sodass drei Zigaretten verlo-ckend herausragten. Er musste sie haben. Er ...
Die Tür ging auf. Ein dunkelhaariger älterer Mann trat ein und blieb überrascht stehen, als er Mike erblickte, der in verkrampfter und nach vorne gebeugter Haltung dastand und ein Stück Seife in der Hand hielt, als wollte er jeden Moment hineinbeißen. Die West war verschwunden. Es war ein Stück Kernseife!
Mike lächelte den Dunkelhaarigen über den Spiegel hinweg an (auch der Spiegel zeigte wieder nur das, was er zeigen sollte), legte die Seife an ihren Platz zurück und wartete, bis sich der andere mit einem angedeuteten Kopfschütteln wieder in Bewegung setzte und in einer der Toiletten verschwand.
Mike verspürte noch immer einen grässlichen Heißhunger nach einer Zigarette, aber das Schlimmste war vorbei.
Plötzlich musste er grinsen. Er hatte damit gerechnet, dass schlimme Momente kommen würden, aber nicht, dass es so schlimm würde. Doch er hatte es geschafft, und es war ein gutes Gefühl.
Die Seife bewegte sich.
Mike starrte sie an. Sein Herz schlug plötzlich ganz langsam, aber sehr hart. Der Schmerz war verschwunden und hatte einem Gefühl Platz gemacht, das schlimmer war. Sein Mund fühlte sich trocken und
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