Intrusion
Untergang geweiht ist, dann kann ich nichts tun, um das verhindern. Also rege ich mich nicht weiter auf.« Sie lachte spöttisch, und er fragte sich, was sie in diesem Moment bewegte. Er beobachtete sie eine Weile, ehe er weitersprach. »Ihr fürchtet keine Rebellion des Volks, Lady. Aber irgendetwas bedrückt Euch.«
Mira drehte sich um und musterte ihn scharf. Winzige Linien in ihrem glatten Gesicht verrieten ihm, dass sie beunruhigt, wenn nicht gar verärgert über seine Kühnheit war. Er hielt ihrem Blick stand.
»Was würden sie tun, Slythe, sie alle, wenn sie wüssten, was ich jetzt im Sinn habe? Dass ich beabsichtige, die Energie zu horten, die ihnen Substanz und Leben verleiht?«
Slythe schüttelte den Kopf. »Sie verstehen nichts von diesen Dingen. Aber selbst wenn es anders wäre, würden sie nichts unternehmen. Beliebt Ihr zu scherzen, Mira? Sie sind allesamt Insekten.« Slythe warf das Messer spielerisch hoch, fast bis an die Decke, und fing es am Griff wieder auf. »Falls es dieser ›Aden‹ war, der Euch Furcht einflößte, so könnt Ihr beruhigt sein. Es gibt ihn nicht mehr. Außerdem glaube ich, die Natur Eurer Furcht zu kennen. Die Geschichte sollte endlich ans Licht kommen – das war es, wovor Ihr Angst hattet. Aber welche Geschichte kann schon erzählt werden, wenn unser Schöpfer den Verstand verloren hat? Keine, außer einem Bericht vom Untergang der Welt. Denn genau den erleben wir im Moment. Ihr wollt nur sicherstellen, dass Ihr die Letzte seid, die hier zerfällt und verrottet. Das geht in Ordnung. Falls Aden die Entwicklung aufhalten sollte, so kam er zu spät. Er hätte nichts geändert.«
»Das erfahren wir jetzt nicht mehr«, sagte sie.
»Richtig.«
Sie starrte ihn mit eisiger Miene an. »Was wäre, wenn er zurückkehrte?«
»Von den Toten?« Er lächelte. »Das wäre eine Großtat. Ich würde ihn wohl fragen, wie es im Jenseits aussieht.«
Wieder bildeten sich feine Fältchen auf ihrer Stirn und um den Mund. Offensichtlich fühlte sie sich von ihm verspottet und ärgerte sich darüber. Arme Mira, dachte Slythe. Du wurdest erschaffen, um in den Kampf zu ziehen und Siege zu erringen. Aber jetzt gibt es keine Ländereien mehr zu erobern, keine Feinde zu unterwerfen. Er stand auf und wandte sich zum Gehen. »Ich sollte diese Familie noch vor Anbruch des neuen Tages auslöschen«, sagte er.
»Slythe, was würdest du tun, wenn ich dir den Befehl erteilte, Muse zu töten?«
Slythe drehte sich nicht um. »Es ließe sich bewerkstelligen«, sagte er.
»Aber du würdest dich weigern?«
Eine Pause. »Ich weiß nicht.«
»Darf ich fragen, weshalb du zögerst, Slythe? Weil du nicht an einen Erfolg glaubst?«
»Fragen dürft Ihr natürlich.« Er glitt durch die Tür nach draußen.
Mira beugte sich wieder über das Gefäß und würgte stöhnend den nächsten Schwall schwarzen Nebels hervor. Dann ging sie zu ihrem Kleiderschrank und holte aus einer Schublade einen kleinen Glasflakon, gefüllt mit dem weißen Licht, das nun spärlicher denn je zuvor durch die Rohrleitungen des Schlosses tröpfelte. Sie entfernte den Korkstöpsel, setzte den Flakon an die Lippen und schluckte. Licht, Energie und Kraft durchströmten ihr Blut; Realität, die sie gestalten konnte, die sie war . »Keine Feinde zu unterwerfen«, murmelte sie spöttisch und schüttelte den Kopf. Slythe wusste nicht, dass sie die Gabe besaß, seine Gedanken aufzunehmen.
Früher einmal war es möglich gewesen, Feinde zu unterwerfen und Ländereien zu erobern. Aber sie war zu spät gekommen. Wie Aden. Die Welt war eine schwindende Erinnerung.
Eine Meile von Days Past entfernt befand sich ein zweistöckiges, graugrün gestrichenes Holzhaus, das nahezu perfekt mit dem Hang im Hintergrund verschmolz. Vom Erdgeschoss aus gelangte man in eine tiefe Kaverne, die Muse in ein Atelier verwandelt hatte. Zwischen Keilrahmen, Papierblöcken und Farbtuben lagen Pinsel, Lappen, gesprungene Paletten und Bleistiftskizzen verstreut. Es roch nach Terpentin und anderen schädlichen Chemikalien. Hier stand Muse vor einer weiteren leeren Leinwand, wie an jenem Tag, als die Welt zum ersten Mal Gestalt angenommen hatte, und fragte sich, was man wohl noch Neues mit den gleichen alten Farben, den gleichen Linien und Winkeln und Kniffen hervorbringen könne.
Manche der Gemälde, die an den Wänden hingen, dienten praktischen Zwecken, wie der Vampir, gegen den Mister Gorr gekämpft hatte, als er hier eingebrochen war, um Aden zu stehlen. Nun starrte er
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