Invasion der Götter
musste alles darangeben, Kimi zu sich zu holen!
Das Beben nahm noch einmal an Intensität zu. An den Wänden, der Decke und dem Boden begannen sich feine Risse zu bilden, die aufeinander zuliefen und sich schließlich allesamt miteinander verbanden. Daraus entstanden tiefere und breitere Spalten. Teile der Zimmerdecke lösten sich, stürzten zu Boden und zerbarsten. Iris war in großer Sorge, dass das Mädchen von einem der herabfallenden Stücke ernsthaft verletzt oder gar erschlagen werden könnte. Der Boden war bereits übersät von Betonbrocken. Auch der Beton der Wände fing an, sich abzulösen und den blanken Bewehrungsstahl freizulegen. Bald würde der Raum über ihnen zusammenbrechen. Kimi schrie verzweifelt.
Jetzt oder nie, dachte sich Dr. Decall und sprang unter dem Tisch hervor, auf dem schon eine beträchtliche Menge an Schutt lastete. Sich auf dem bebenden Boden auf den Beinen zu halten war schwieriger, als von Iris angenommen. Mit gebeugten Knien wankte sie zu dem brüllenden Baby. Plötzlich löste sich direkt über ihr ein Betonstück von der Zimmerdecke und traf sie am Hinterkopf. Benommen sank Iris zu Boden. Der Raum drehte sich und fing an, vor ihren Augen zu verschwimmen. Kurz darauf verstummte Kimis Schreien für ihre Ohren.
Dr. Iris Decall hatte keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, doch das Beben war vorüber, und sie hatte es überstanden, wenn auch nicht gänzlich unbeschadet. Sie fasste sich an ihren vor Schmerz pochenden Hinterkopf und berührte eine großflächige feuchte Stelle. Blind führte sie ihre Finger zur Nase, während sie die Substanz dazwischen verrieb, und roch daran. Auch wenn sie ohnehin wusste, dass es sich um Blut handelte, war der eisenhaltige Geruch nur noch eine Bestätigung. Es war jedoch keine Zeit, sich um ihre Wunde zu kümmern.
Trotz ihrer unerbittlichen Schreie war Kimi in der Finsternis nur schwer auszumachen. Die kahlen Wände ließen ihre Laute scheinbar unendlich oft widerhallen. Einerseits war Iris froh, die Stimme des Mädchens zu hören. Andererseits tat sie sich dadurch schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie erinnerte sich an die kleine Taschenlampe in ihrer Handtasche, die ihr Jonathan vor nicht allzu langer Zeit geschenkt hatte. Nicht dass der smarte Archäologe diese Situation vorausgeahnt hätte. Vielmehr war diese Taschenlampe gewissermaßen der Ersatz für ein neues Auto. Während andere den Vorzug eines elektronischen Türöffners genossen, war es für Dr. Decall stets schwierig, ihren alten VW Käfer auf- oder zuzuschließen. Wenn sie nachts aus dem Museum auf den spärlich beleuchteten Mitarbeiterplatz hinauskam, stand sie stets vor demselben Problem. Iris und Jonathan hatten endlose Diskussionen darüber geführt, dass sie sich doch endlich ein neues Auto zulegen sollte – Jona hätte ihr sogar eines gekauft –, doch die dickköpfige junge Frau liebte ihren deutschen Oldtimer. Erst nach Jahren gab er es auf und kaufte seiner Liebsten diese kleine Taschenlampe, die sie von diesem Augenblick an ständig in ihrer Handtasche mit sich führte – um Jonathan damit zu beruhigen und weil sie ein schöner kleiner Liebesbeweis war.
Auf allen vieren tastete sie sich über den mit Schutt und feinem Staub bedeckten Boden voran, in der Hoffnung, jeden Augenblick auf ihre Lederimitat-Tasche zu stoßen – oder auf Kimi. Die gebückte Haltung und dazu noch das Geschrei des Mädchens verstärkten den Kopfschmerz zunehmend. Angeblich ruft das Weinen eines Babys in einer Frau die Mutterinstinkte wach – Iris war jedoch nur genervt und wünschte sich, dass der kleine Quälgeist nur einen Augenblick lang seinen Mund halten könnte, damit sie etwas konzentrierter nach ihrer Tasche suchen konnte. Es dauerte nicht lange, als sie unter einem großen Bruchstück einen weichen Gegenstand ertastete. Das musste sie sein, das war sie! Sie hoffte, dass die Taschenlampe nicht beschädigt war. Nachdem sie das Betonstück entfernt und die handliche Lampe aus ihrer Handtasche befreit hatte, hielt sie diese für wenige Momente mit beiden Händen fest umklammert. Ihre Gedanken waren zerrissen zwischen Bangen und Hoffen. Ihr Daumen befand sich auf dem gummierten Einschaltknopf. Sie war nur einen festen Druck von der Gewissheit entfernt, ob sie jemals diesem finsteren und tief unter der Erde liegenden Gefängnis entfliehen könnte.
Das Licht der Taschenlampe flackerte für einen Moment auf, erlosch jedoch sofort wieder. Panisch klopfte Iris mit der
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