Inversionen
König. »Seid Ihr der Meinung, daß ich die Dinge zu früh angehe?«
»Vielleicht ein wenig, Herr«, antwortete Ormin mit geschmerzter Miene. »Aber es ist schwierig, derlei Angelegenheiten mit absoluter Genauigkeit vorauszuplanen. Ich vermute, man findet erst nach Ablauf einer geraumen Zeit heraus, ob man das Richtige getan hat. Manchmal sind es erst die eigenen Kinder, die darüber urteilen können, was an einer Sache falsch und was richtig war. Man kann es ein wenig mit dem Pflanzen von Bäumen vergleichen.« Diese letzten Worte äußerte er mit einem Ausdruck gemäßigten Stauens über seine eigenen Worte.
Ulresile musterte ihn stirnrunzelnd. »Bäume wachsen, Herzog. Bei uns hingegen werden die Wälder ringsum abgeholzt.«
»Ja, aber mit dem Holz kann man Häuser, Brücken, Schiffe bauen«, sagte der König lächelnd. »Und Bäume wachsen wieder nach. Im Gegensatz zu Köpfen, sagen wir mal.«
Ulresis Lippen spannten sich.
»Ich denke, der Herzog meint vielleicht folgendes«, sagte Ormin. »Es könnte sein, daß wir diese… Veränderung allzu schnell vorantreiben. Wir laufen Gefahr, zuviel von der Macht der bestehenden Adelsstruktur abzuschaffen oder zumindest zu beschneiden, bevor ein geeignetes Gerüst errichtet wurde, um die Last zu tragen. Ich muß gestehen, daß ich für mein Teil besorgt bin, daß die Bürger in einigen Städten meiner eigenen Provinz zum Beispiel den Gedanken, daß ihnen Landbesitzrecht mit allen damit verbundenen Verantwortlichkeiten übertragen werden soll, noch nicht so ganz begriffen haben könnten.«
»Aber dennoch haben sie mit Getreide und Tieren oder mit den Produkten ihres Gewerbes oder Handwerks seit Generationen Handel getrieben«, sagte der König und hielt dabei die linke Hand hoch, die die Ärztin fertig verbunden hatte. Er begutachtete sie sorgfältig, als ob er nach einem Makel suchte. »Es kommt mir seltsam vor, daß sie, nur weil ihr Lehnsherr in der Vergangenheit entschieden hat, wer was anbaut und wer wo wohnt, den Gedanken nicht begreifen können, daß sie in die Lage versetzt werden sollen, in dieser Hinsicht ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. In Wirklichkeit mag man sogar feststellen, daß sie das auch jetzt schon tun, jedoch auf eine Weise, die man als inoffiziell bezeichnen könnte, ohne daß Ihr davon wißt.«
»Nein, das sind einfache Leute, Herr«, widersprach Ulresile. »Eines Tages sind sie vielleicht reif genug für diese Verantwortung, aber jetzt noch nicht.«
»Wißt Ihr«, sagte der König ernst, »ich glaube nicht, daß ich damals reif genug war für die Verantwortung, die ich nach dem Tod meines Vaters auf meine Schultern nehmen mußte.«
»Ach, Herr«, sagte Ormin, »Ihr seid zu bescheiden. Natürlich wart Ihr reif dafür und habt den überzeugenden Beweis dafür durch die Art und Weise, wie Ihr mit den folgenden Ereignissen fertig geworden seid, geliefert. Und Ihr habt es in kürzester Zeit bewiesen.«
»Nein, ich glaube nicht, daß ich es war«, sagte der König. »Gewiß hatte ich nicht das Gefühl, daß ich es war, und ich wette, wenn man eine Umfrage unter allen Herzögen und anderen Adeligen am Hof zu jener Zeit durchgeführt hätte – und es wäre ihnen erlaubt gewesen zu sagen, was sie wirklich dachten, nicht was ich oder mein Vater zu hören wünschte –, hätten sie alle ausnahmslos gesagt, daß ich nicht reif für die Verantwortung sei. Und ich hätte ihnen zugestimmt. Doch als mein Vater starb, war ich gezwungen, den Thron zu besteigen, und obwohl ich wußte, daß ich nicht reif dafür war, habe ich mich der Aufgabe gestellt. Ich habe gelernt. Ich entwickelte mich zum König, da ich mich als solcher verhalten mußte, nicht einfach nur deshalb, weil ich der Sohn meines Vaters war und man mich schon lange zuvor darauf vorbereitet hatte, daß ich diese Rolle würde übernehmen müssen.«
Ormin nickte beipflichtend.
»Ich bin sicher, wir verstehen den Standpunkt Eurer Majestät«, sagte Ulresile, während Wiester und ein paar Diener dem König beim Anlegen der schweren Zeremoniengewänder halfen. Die Ärztin trat beiseite, damit sie die Arme des Königs in die Ärmel gleiten lassen konnten, bevor sie das Befestigen des Verbandes an seiner rechten Hand vollendete.
»Ich denke, wir müssen tapfer sein, meine Freunde«, sagte Herzog Ormin zu Walen und Ulresile. »Der König hat recht. Wir leben in einem neuen Zeitalter und müssen den Mut aufbringen, uns auf neue Dinge einzustellen. Die Gesetze der Vorsehung mögen für die
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