Irgendwann Holt Es Dich Ein

erdrosselt. Er hatte Kate gequält, bis sie beinahe den Verstand verlor. Und eben hatte er alles auf Band gestanden. War er ein Soziopath? Neil fühlte in seiner Tasche nach dem Telefon, um sich zu vergewissern, dass es noch da war. Er suchte nach der Taste für Wahlwiederholung. Ein simples Drücken könnte ihm Kate ans Telefon holen, und sie würde wissen, wo er war.
    »Warum?«, stellte er die große, noch offene Frage. »Warum haben Sie es getan? Welche Befriedigung können Sie daraus gewinnen?«
    »Ich zeig's Ihnen«, sagte Atkins, erhob sich, stieß die Glastüren auf und trat auf den Balkon.
     
    Neil schnappte sich rasch und diskret das Aufnahmegerät und folgte Atkins auf den Balkon. Der kleine Mann stand an der Brüstung und beugte sich hinüber. Er zeigte auf etwas irgendwo in der Dunkelheit. »Das ist sie«, sagte er. »Dort. Können Sie sie sehen?«
    Ungern begab Neil sich näher an die Brüstung. Automatisch krallte er die Finger in die Betonwand, denn plötzlich bekam er Angst. Er war auf einem Balkon im sechsten Stock mit einem soziopathischen Mörder. Was zur Hölle dachte er sich bloß dabei?
    »Dort«, sagte Atkins. »Sie ist nur ein paar hundert Meter entfernt. Bei Tageslicht kann man sie ganz deutlich sehen, die ganzen Schornsteine und Schindeln, den blutroten Stein. Ich hasse den Bau.«
    Neil begriff, dass er auf die Lady Jane Grey zeigte.
    »Ich hasse den Bau«, wiederholte Atkins. »Ich war ein guter Lehrer, bevor ich dorthin kam. Das weiß ich. Und dann tat die Lady Jane Grey alles, um mich zu zerstören. Diese Mädchen. Diese Mädchen, die so von sich eingenommen waren, die ihr Haar nach hinten warfen wie Pferde. Sie halten sich für stark. Sie glauben, sie können jeden anderen in Grund und Boden treten. Sie denken, sie regieren die Welt. Tja, ich habe von ihnen gelernt. Jetzt weiß ich, wie ich ihnen wehtun kann. Jetzt weiß ich, wie ich sie umbringe. Jetzt haben sie Angst vor mir.«
    Neil stand mit dem Rücken zur Wand, so weit weg vom Balkonrand, wie er konnte. Er konnte den eigenen Herzschlag hören. Sicher hatte Kate inzwischen Dave erreicht. Würde er ihr glauben? Würde er sie ernstnehmen? Würde er eine Streife schicken?
    »Nehmen Sie nur mal sich«, sagte Atkins. »Sie sind einer von denen geworden, was? Die haben Sie vereinnahmt. Sie und Ihre Frau mit Ihren schicken Jobs und Ihrem schicken Haus. Sie mischen sich in alles ein. Sie glauben, Sie könnten alles klären. Sie denken, Sie kennen mein Spiel.« Er kam näher zu Neil, und auf einmal, vollkommen unerwartet, packte er Neils Gürtel mit solcher Kraft, dass Neil vornüber an die Balkonbrüstung kippte.
    »Jetzt haben Sie Angst«, raunte Atkins. »Sollten Sie auch. Manchmal unterschätze ich meine eigene Kraft. Manchmal will ich, dass Leute tot sind, und dann sterben sie. Sie haben gehört, was Ihre Frau bei der Befragung gesagt hat. Sie haben gehört, was Harriet Fox' letzte Worte waren: ›Wir haben etwas Furchtbares getan.‹ Die wissen alle ganz genau, dass sie schuldig sind. Die wissen ganz genau, was sie mir angetan haben. Es war höchste Zeit, dass eine von ihnen gestanden hat.«
    Neil umklammerte das Metallgestänge oben an der Brüstung. Er wagte nicht, nach unten zu sehen, denn er hatte inzwischen eine Riesenangst. Und er sagte nichts. Er bemerkte, dass er den Atem anhielt. Nur wenige hundert Meter gegenüber war ein weiteres Hochhaus, genauso erleuchtet wie dieses, voller Menschen, die keine Ahnung hatten, was hier drüben vor sich ging.
    Die Stille wurde vom Heulen einer Polizeisirene unterbrochen, dann erklang noch eine. Neil wagte es endlich, über die Brüstung zu blicken. Gott sei Dank! Gott sei Dank! Er konnte sehen, wie die Wagen direkt vor dem Haus hielten. Atkins blickte ebenfalls hinunter, und Neil sah, wie der triumphierende Gesichtsausdruck des Lehrers plötzlich ängstlich wurde. Beide standen da, hielten sich am Balkongeländer fest und beobachteten einander. Mein Gott, das war echt hochriskanter Journalismus! Und es war schon fast komisch.
    Während er Atkins ansah, fielen die Schultern des alten Mannes herab. Und plötzlich wurde er wieder zu dem unscheinbaren kleinen Mann mit dem obsessiven Hobby, der Neil in seine Wohnung gebeten hatte. Atkins räusperte sich. »Ah, na schön, das war höchst interessant. Ja, fürwahr, sehr interessant«, murmelte er, und dann ging er zurück in die Wohnung. Neil war maßlos erleichtert.
    Atkins stand am Couchtisch, auf dem sich Zeitschriften und Zeitungen neben