Irgendwann Holt Es Dich Ein
einer Schere, Klebeband und Heftzwecken stapelten. Die Werkzeuge für sein Hobby. »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte er ruhig, als Neil zu ihm ins Zimmer trat. »Es hat gutgetan, mit jemandem über meine Arbeit zu reden. Ich würde gern fortfahren, aber ich denke, ich habe mein Anliegen hinlänglich klargemacht. Den springenden Punkt sozusagen. Ha! Das ist ziemlich lustig, nicht wahr?«
Und bevor Neil irgendetwas tun konnte, griff Atkins nach der Schere. »Meinen springenden Punkt, verstehen Sie?«, sagte er, während er die Schere aufklappte und ehrfürchtig mit dem Finger die Klingen entlangfuhr. Und dann, sehr schnell, viel schneller als Neil es einem Mann seines Alters zugetraut hätte, rammte er sich die Klingen in den Hals. Blut spritzte überall hin, eine Fontäne aus Blut, die auf die Frauengesichter an der Wand niederging.
ACHTUNDZWANZIG
Kate musste zugeben, dass es für Neil die Geschichte seines Lebens war: das Geständnis eines Mörders auf Band. Sie verstand, warum er so begeistert war und ganz in seiner Arbeit aufging. Die Sendung über den kleinen vermissten Jungen hatte er sehr schnell fertig geschnitten und redigiert. Jetzt arbeitete er an einem Special über die Lady Jane Grey und den Fall von Mr. Atkins. Es wurde sogar von einer Kinofassung geredet.
Neil ging es glänzend. Es war ihm gelungen, die gegenwärtige Schulleiterin zu überzeugen, dass es nur im Interesse der Schule sei, mit ihm zu reden. Und nun ließ er seinen Charme bei der Frau spielen, die zu Mr. Atkins' Zeiten Schulleiterin war. Zudem hoffte er, Susan Sullivan zu einem Interview vor laufender Kamera überreden zu können.
Vielen der Frauen an Atkins' Wand spürte er nach; einige von ihnen waren bereit, mit Neil zu reden, die meisten anderen nicht. Vor allem forschte er nach den »vier oder fünf« Frauen, die Atkins nach eigener Aussage noch getötet hatte. In diesem Zusammenhang hoffte er, die Polizei zur Wiederaufnahme der Ermittlungen im Todesfall einer früheren Lady-Jane-Schülerin zu bewegen, die in ihrer Garage an Autoabgasen erstickt war, nachdem sie zahlreiche Ausschnitte aus Fachzeitschriften zugeschickt bekommen hatte, denen zufolge ihr blauäugiger Ehemann unmöglich der biologische Vater ihres braunäugigen Kindes sein konnte.
Mit all dem war Neil beschäftigt, und Kate wusste, dass er ganz in seinem Element war. Eigentlich hätte sie froh sein sollen - oder zumindest zufrieden und beruhigt. Das war sie jedoch nicht. Sie fühlte sich erbärmlich.
Jeden Morgen beim Aufwachen empfand sie einen tiefen Widerwillen. Es war, als hinge die sprichwörtliche dunkle Wolke direkt über ihr. Ihr ganzer Körper war steif und verspannt, ihr Schädel brummte, und sie brachte sich gerade mal dazu, aus dem Bett zu kriechen und mit Neil zu frühstücken - im Bademantel. Währenddessen fragte sie sich, wie sie an diesem Punkt gelandet war, als hätte sie sich in ihre Ehe zurücktreiben lassen, ohne auch nur ein einziges ihrer Probleme anzugehen. Kate kam sich wie eingesperrt in diesem Leben vor, in diesem Haus und dieser Alltagsroutine, aus der es kein Entrinnen gab.
Natürlich war ihr klar, dass ihre Antriebslosigkeit teils daran lag, dass sie ihre Arbeit verloren hatte. Seit sie erwachsen war, hatte sie immer gearbeitet, lange und zu absurden Zeiten, und plötzlich saß sie hier und hatte nichts zu tun. Eigentlich sollte sie das Beste daraus machen, ihre Freiheit genießen und sich Dingen widmen, zu denen sie früher nie gekommen war. Sie könnte den Roman schreiben, von dem sie schon so oft geredet hatte, sich Spanisch oder Stricken beibringen oder Kurse in Lebensberatung, Psychologie oder Bauchtanz belegen. Sie sollte ihre Zukunft beim Schopf packen und etwas mit ihr anfangen. Aber stattdessen gammelte sie im Bademantel herum und schaute sich im Fernsehen an, wie Leute alten Krempel verkauften, den sie auf ihrem Dachboden gefunden hatten.
Neil hatte gesagt, dass sie wahrscheinlich depressiv sei und dass es eine richtige Krankheit sei. Seiner Ansicht nach zeigte sie alle typischen Symptome (wieso wusste er eigentlich immer alles?). Und das sei nach den letzten paar Wochen nicht verwunderlich, wie er sagte, und deshalb solle sie einen Arzt aufsuchen.
Doch das wollte Kate nicht. Sie glaubte fest daran, dass sie ihr Stimmungstief wegtrainieren könne. Ihr ganzes Leben lang hatte sie das geschafft: Wann immer sie niedergeschlagen war, hatte sie die Laufschuhe angezogen und sich ein natürliches Hochgefühl
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