Irgendwann Holt Es Dich Ein
war willkürlich vorgegangen. Sofern er eine ehemalige Schülerin der Lady Jane ausfindig machte, nahm er sie ins Visier, ob er sie unterrichtet hatte oder nicht. Er ging quasi nach dem Gießkannenprinzip vor, das war Kate bewusst. Der entscheidende Punkt aber war: Wir haben etwas Furchtbares getan. Hier lag Kates bisheriger Denkfehler. Nachdem sie von Mr. Atkins' Taten erfahren hatte, nahm Kate irrtümlich an, dass Hattie ihn gemeint hätte - dass Hattie irgendwie herausgefunden hatte, wer sie quälte und warum. Doch das konnte gar nicht sein, denn Hattie hatte Mr. Atkins ja nicht gekannt. Hattie hatte nichts mit den Quälereien zu tun gehabt, die Mr. Atkins erlebt hatte. Die einzige Person, an deren Mobbing Hattie sich jemals beteiligt hatte, war Kate. Aber warum war Hattie dann so verzweifelt gewesen? Wofür sollte sie ihrer Meinung nach bestraft werden? Was war das Furchtbare, das sie getan hatte? Hatte sie vielleicht bloß versucht, sich bei Kate zu entschuldigen? Dachte sie, Kate sei diejenige, die sie verfolgte? Wieder einmal bewegten sich Kates Gedanken im Kreis. Hör auf damit!, befahl sie sich. Es spielt keine Rolle mehr. Konzentriere dich lieber darauf, etwas zu finden, was Neil gebrauchen kann!
Kate erinnerte sich an das Foto, das Mrs. Fox ihr gegeben hatte, das Kate mit Hattie, Susan und Serena auf dem Wochenendschnupperseminar in Cambridge zeigte. Am Rand war auf einer Seite etwas abgerissen worden, und nun fragte Kate sich, ob sie irgendwo im Karton noch einen vollständigen Abzug besaß. Seit Jahren hatte sie ihre Sachen nicht mehr angesehen - höchstens einmal nach ihrer Hochzeit. Damals waren sie in dieses Haus gezogen und hatten alle Kartons durchgesehen und überlegt, was wohin geräumt werden sollte. Da hatte Neil den Karton aufgemacht und eines von Kates Zeugnissen herausgenommen. Die Bemerkung oben hatte er laut vorgelesen: »Kathryn sollte mehr Bemühen zeigen, sich in das Schulleben zu integrieren.« Er hatte gelacht. »Du weißt ja, was das heißt, nicht? Entweder warst du verschlossen, oder du hast gestunken.«
Und sie hatte ein Lachen vorgetäuscht, während sie sich fragte, ob sie je den Mut aufbrächte, Neil von ihrer Schulzeit zu erzählen.
Kate wusste nicht mal, wozu sie die Sachen aufbewahrt hatte. Vielleicht lag es daran, dass ihre Mutter die Wohnung entrümpelt und einige von Kates Kunstwerken und Büchern mit selbst geschriebenen Gedichten aus Teenagertagen weggeworfen hatte. Einzig die Sachen in dem Karton hatten die Wegwerfaktion überlebt; die letzten Beweise, dass sie einmal jung gewesen war.
Hier war das Foto von ihr aus dem Jahr, als sie auf die Lady Jane kam. Ihre erste Woche in der Schule. Sie war elf Jahre alt und stolz auf ihre neue Schuluniform. An ihrem Lächeln erkannte Kate, dass sie noch voller Hoffnung war, als das Bild aufgenommen wurde. Sie erinnerte sich sogar, wie sie vor einer bemalten Leinwand gestanden und für den Fotografen gelächelt hatte. Sie war ganz aufgeregt gewesen, weil sie die Lady-Jane-Uniform trug, und hatte noch gedacht, dass sie bald Freundinnen an der Schule finden würde. Es brach Kate das Herz, das kleine Mädchen mit dem stramm nach hinten gekämmten, geflochtenen Haar zu sehen, dessen Augen zu groß für das Gesicht waren. Und da waren ihre Schulhefte, gefüllt in ihrer beängstigend kleinen, sauberen, engen Handschrift. Sie erinnerte sich bis heute daran, dass es stets ihr Ehrgeiz gewesen war, so viele Worte wie irgend möglich in eine Zeile zu quetschen und alle Buchstaben genau gleich groß zu machen. Entsprechend hatte es Stunden gedauert, bis sie einen Aufsatz fertig geschrieben hatte und wirklich zufrieden war. Ein Psychologe hätte damals bloß in eines ihrer Schulhefte sehen müssen und anhand ihrer zwanghaft sauberen Schrift begriffen, was los war.
Weiter unten im Karton lagen ihre Hefte aus der Oberstufe. Inzwischen war die Schrift lockerer und größer geworden. Lächelnd zog Kate die Schleifen und Bögen nach. In der Zeit war sie offenbar ein wenig glücklicher gewesen. Sie fand auch den Ordner mit jenen Essays, die sie als Vorbereitung auf den allgemeinen Teil der Oxbridge-Aufnahmeprüfungen verfasst hatte, das typische Philosophieren einer Oberstufenschülerin. Und Kate hatte die Vorbereitungsklasse Spaß gemacht. An einem Tag hatte sie sogar neben Hattie gesessen.
Und dann entdeckte sie, was sie suchte, ganz unten im Karton, halb verdeckt von einer der Laschen - das Foto aus Cambridge.
Hattie stand rechts, auffallend
Weitere Kostenlose Bücher