Irgendwann Holt Es Dich Ein
Zuhause, der antiseptisch reinen, oberanständigen Sozialwohnung. Jetzt hingegen kam ihr hier alles nur unordentlich und dreckig vor, als wäre in den Jahren seit damals erst recht nicht mehr saubergemacht worden. Alles, was früher unkonventionell, künstlerisch und aufregend wirkte, mutete nun wie eine abgetakelte Kulisse an. Kate hockte auf dem Rand eines durchgesessenen Sofas, dessen Polster von Katzenhaaren übersät waren, und bemühte sich, so viel von ihrem Tee zu trinken, wie sie konnte. Ihr wollte partout keine passende Erwiderung einfallen.
»Hattie mochte dich wirklich gern«, soufflierte Rosemary.
»Ja, ich mochte sie auch sehr«, sagte Kate, was sich selbst für sie unglaubwürdig anhörte. Ihr fiel auf, dass Hatties Mutter ganz in Grautönen gekleidet war: eine Seidenbluse unter einer wollenen Tunika zu einer weiten Hose im Katherine-Hepburn-Stil. Wie früher schon oft, fragte Kate sich auch jetzt wieder, wie eine so wunderschöne, stilsichere Frau in solch einem Haus wohnen konnte.
»An der Lady Jane Grey war sie glücklich.« Rosemary lehnte sich auf ihrem Sessel nach vorn, so nahe zu Kate, dass ihre Knie sich beinahe berührten, und fixierte Kate mit ihren blauen Augen. »Was für eine entzückende Schule das war! So viele entzückende Mädchen!«
Nun berührte sie Kates Knie mit der Hand, als wollte sie ihr bestätigen, dass sie entzückend war. Hastig trank Kate einen Schluck von ihrem Tee, um nichts erwidern zu müssen.
»Du weißt selbstverständlich, wie furchtbar Hattie auf ihrer vorherigen Schule zugesetzt wurde«, fuhr Rosemary fort. »Ihr Vater bestand darauf, dass sie zur öffentlichen Gesamtschule ging, aber die Jungen und Mädchen dort waren so hässlich zu ihr. Sie wollten ihr künstlerisches Wesen eben nicht begreifen.«
Kate nickte bloß, und ihr kam der Gedanke, dass Rosemary Fox womöglich ein bisschen lächerlich war. Doch sie verscheuchte ihn gleich wieder. Sie hatte diese Frau immer gemocht. Und wie konnte sie eine Frau so harsch beurteilen, die gerade ihre Tochter verloren hatte?
»Ich war begeistert, als Hattie den Platz auf der Lady Jane bekam«, sagte Rosemary. »Du musst es dort genossen haben, Kathryn.«
Kate entging nicht, dass Rosemary Fox' Augen vor Tränen schimmerten, und sie nickte automatisch. »Ja, ich hatte großes Glück.« Na also, das war eine sichere Antwort. Kates Gedanken indes schlugen eine gänzlich andere Richtung ein: Hattie war an ihrer vorherigen Schule gemobbt worden? Das war erstaunlich. Oder auch nicht. Vielleicht erfüllte sich auch nur die Weisheit, dass aus dem Tyrannisierten ein Tyrann wird. Nur dass Hattie sie nicht tyrannisiert hatte, wenigstens nicht richtig, nicht böswillig. Sie war eben eines der beliebten Mädchen gewesen und hatte getan, was die beliebten Mädchen taten.
Kate spürte, dass Rosemary unbedingt reden wollte, ihre Gefühle und Erinnerungen teilen. Als sie Kate hereinließ, hatte sie so gefasst gewirkt, aber jetzt sah Kate, dass sie zitterte, als würde sie mit aller Macht ihre heftigen Gefühle unterdrücken. Neil hatte Kate gedrängt, alles rauszulassen, darüber zu reden. Doch Kate wäre sich wie eine Betrügerin vorgekommen, hätte sie Rosemary jetzt in gleicher Weise zum Reden aufgefordert. Sie wollte nicht über Hattie reden, und es widerstrebte ihr, gegenüber Rosemary Fox so zu tun, als sei es eine unkomplizierte, liebevolle Freundschaft gewesen, die sie mit ihrer Tochter verband. Kate wusste eigentlich gar nicht, wieso sie hierhergekommen war oder was Rosemary Fox von ihr wollte. Vielleicht sollte sie noch ein letztes Mal an diesem scheußlichen Tee nippen, sich entschuldigen und gehen.
Vorsichtig nahm Kate ihre Tasse und Untertasse auf. Eine alte Wanduhr auf der anderen Seite des Zimmers tickte und knarrte. Auf einmal kam ein großer roter Kater angeschlichen, den Kate vorher gar nicht bemerkt hatte, und rieb seinen Rücken an ihren Beinen. Und dann lehnte Rosemary Fox sich unvermittelt vor und packte Kates Handgelenk, sodass diese ihren Tee auf die Untertasse verschüttete.
»Hat sie dir erzählt, was mit ihr passiert ist?«
Kate fühlte, wie sich die Atmosphäre im Zimmer verdichtete. Rosemarys Griff an ihrem Unterarm erinnerte sie daran, wie Hattie sie in jenem schrecklichen Moment auf dem Bahnsteig an der Schulter gepackt hatte. Und Kate wusste nicht, was sie antworten sollte. Wollte Rosemary Hatties letzte Worte hören? Hatte sie ein Anrecht, sie zu hören? Wüsste sie, was ihre Tochter gemeint
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