Irgendwann Holt Es Dich Ein
musste. Sie tastete in der Luft herum und bekam das Plastikende der Schnur zu fassen. Inzwischen war sie vollends überzeugt, in eine dämliche Falle getappt zu sein. Über zwanzig Jahre waren vergangen, und immer noch besaß Serena die Macht, sie zum Narren zu halten, sie lächerlich zu machen. Kate zog an der Schnur und wappnete sich auf das, was Serena sich ausgedacht haben mochte: ein paar der bösesten Mädchen aus der Schule, die sich »Überraschung!« kreischend auf sie stürzten, Kate zum Spaß knufften und mit ihren verächtlichen Worten in Stücke rissen.
Das Neonlicht flackerte zunächst nur wild, dann plötzlich war es taghell. Die Scheune war leer, nichts als eine große mit Steinplatten geflieste Fläche, auf der ein einzelnes, gemütlich aussehendes Sofa stand. Eine Holztreppe führte zu einem Halbboden hinauf, der als Büro hergerichtet war. Kate kam sich albern vor, weil sie sich gefürchtet hatte. Sie sah hinauf zu der Galerie, zum Computer mit dem blinkenden Licht, und in dem Augenblick blieb ihr fast das Herz stehen.
Oben, wo offenbar Serenas Büro war, inmitten von Büromöbeln und Regalen voller Stoffballen, sah Kate eine Puppe, eine lebensgroße Serena-Puppe, die seltsam schief von einem der Dachbalken herunterhing. Sie war wie Serena angezogen, trug einen blauen, gerafften Rock ähnlich dem, den sie bei der Trauerfeier angehabt hatte. Und sie sah genau aus wie Serena: die gleiche Größe, dieselben Speckpolster an den Knöcheln und dieselben runden Hüften. Kate stieg die Treppe hinauf zum Boden. Sie bemerkte, dass der Schreibtischstuhl umgekippt dalag. Sie nahm das blumige Parfum wahr, nach dem Serena bei Hatties Trauerfeier gerochen hatte. Und dann sah sie das Gesicht der Puppe. Es war blau, die Augen waren vorgequollen, und die Zunge hing lila geschwollen aus dem Mund. O Gott, das war Serena! Serena hing da, und sie war tot. Mausetot.
Kate würgte und hielt sich eine Hand vor den Mund. Sie war wie versteinert und versuchte zu begreifen, was sie sah. Dann hörte sie ein Geräusch von unten, das Knarren der Tür, gefolgt von einem Schrei. Kate fuhr herum. Ein Mädchen stand unten am Eingang der Scheune, ein kräftiges Mädchen in einer Lady-Jane-Grey-Uniform. Es war kreidebleich und starrte auf die Tote. »Mummy!«, schrie das Mädchen. »Was haben Sie mit meiner Mummy gemacht? Was haben Sie ihr getan?«
ZWÖLF
Sie hieß Josie Harcourt, und sie war dreizehn Jahre alt. Sie liebte Lady Jane Grey, Ponys und das High School Musical. Obwohl sie groß für ihr Alter war, wirkte sie sehr viel jünger, sobald sie zu reden begann. Josie saß an einem alten, zerkratzten Holztisch in der geräumigen Bauernküche und stocherte in einer großen Portion selbstgemachter Lasagne, die Kate im Tiefkühlfach gefunden und in der Mikrowelle aufgewärmt hatte. Trotz des dicken Pullovers, den Kate von einer der Stuhllehnen genommen und ihr gegeben hatte, war Josie bleich und schlotterte vor Kälte. Kate fiel einfach nichts Besseres ein, also sorgte sie dafür, dass dem Mädchen wenigstens warm war und es zu essen bekam, während Kate ihm lauter belanglose Fragen stellte. Als könnten Worte - beliebige Worte, normales, nichtiges Geplauder - das Entsetzliche zähmen und plötzlich alles wieder normal werden lassen. Im Grunde hatte Kate keine Ahnung, was sie sonst mit einem Mädchen anstellen sollte, das gerade aus der Schule gekommen war und zu Hause von der Leiche seiner Mutter begrüßt wurde, die vom Dachbalken baumelte.
Kurz nachdem Kate sie gerufen hatte, war die Polizei, gefolgt von einem Krankenwagen, gekommen. Sie hatten gelbes Absperrband um die Scheune gespannt, und Kate hatte ihre Aussage bei einem jungen Uniformierten gemacht, dem Flaum auf der Oberlippe spross. Eine sehr schlichte, sachliche Aussage. Auf seine knappen, unsensiblen Fragen hin hatte sie ihm erklärt, dass Serena sie angerufen und um ein Gespräch gebeten habe. Kate sagte dem Polizisten, dass Serena aufgewühlt geklungen habe, sie aber nicht wisse, weshalb. Und sie hatte ihm erzählt, dass eine Freundin von Serena vor kurzem Selbstmord begangen hatte. Sicher hätte Kate ihm noch sehr viel mehr erzählen können, doch die Fragen, die man ihr stellte, erlaubten keine ausführlicheren Antworten oder gar Spekulationen.
Nun saß sie mit Josie in der Küche und wartete, dass deren Vater, Serenas Mann, von der Arbeit kam. Die Polizei wollte mit Josie sprechen, durfte es aber erst, wenn der Vater anwesend war. Anscheinend hielten sie
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