Irgendwann Holt Es Dich Ein
Kate für eine enge Freundin von Serena (was Kate auch nicht offen geleugnet hatte), denn sie baten sie, in loco parentis bei Josie zu bleiben. Als Serenas Mann endlich da war, nahm die Polizei ihn mit in ein anderes Zimmer, um ihn zu befragen, sodass Kate sich verpflichtet fühlte, vorerst noch bei Josie auszuharren.
Außerdem wartete sie auf Neil. Warum sie ihn angerufen hatte, wusste sie selbst nicht genau. Es war eine vollkommen selbstverständliche Reaktion gewesen: Trotz allem war er immer noch der Mensch, der ihr am nächsten stand. Und vielleicht wurde er ja aus dem Ganzen schlau. Gleich nach der Polizei hatte sie ihn angerufen, und er sagte: »Ach, du Scheiße! Was ist denn mit dir und deinen Freundinnen los, dass die sich auf einmal reihenweise umbringen?« Kate hätte beinahe gelacht.
»Bleib, wo du bist«, hatte er sie angewiesen. »Ich komme mit der Bahn hin. Nach dieser Geschichte lasse ich dich nicht allein nach Hause fahren.«
Neil zeigte bisweilen Anfälle von nordenglischem Machoverhalten, und Kate wusste aus Erfahrung, dass es am einfachsten war, wenn sie ihm in solchen Momenten seinen Willen ließ.
Der Aga-Herd in Serenas Küche strahlte wohlige Wärme ab. Kate stand mit dem Rücken vor dem Herd, weil sie nun auch vor Kälte bibberte. Die Küche wirkte auf stilvolle Weise anheimelnd und bewohnt. Töpfe und Kochutensilien hingen von einer hohen Reling, die Kühlschranktür zierten bunte Magnete und Fotos, und neben dem Herd befand sich eine Pinnwand mit Ausschnitten, Quittungen und den Speisekarten verschiedener Lieferservices. Während Josie ihre Lasagne aufaß, betrachtete Kate gedankenverloren eine der Karten. Ihr fiel auf, dass sie von dem Bistro war, das sie auf dem Weg hierher passiert hatte; sie bot frisch bereitetes Bioessen an. Kochbücher waren auf der Arbeitsplatte nahe dem Herd aufgestapelt. Die üblichen Verdächtigen: Jamie, Delia und Nigella. Kate nahm das oberste Buch in die Hand und wollte darin blättern, um sich die Zeit zu vertreiben, aber dabei zog sie etwas anderes mit. Hinter den Büchern steckte ein Bündel Papiere, Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften, die von einer großen Papierklammer zusammengehalten wurden. Kate sah sie sich genauer an. Alle hatten irgendetwas mit Diäten zu tun. Es waren Rezensionen von Diätbüchern, Artikel, die fünfzehn Pfund Gewichtsreduktion bis zum Sommer versprachen, und Anleitungen für Turnübungen, die angeblich eine straffere Figur machten. Serena musste sämtliche verfügbaren Zeitschriften und Zeitungen gekauft haben, in denen etwas zum Thema Abnehmen stand, als habe sie gehofft, eines Tages zufällig über den Heiligen Gral des Schlankwerdens zu stolpern. Die arme dumme Kuh!, dachte Kate. Sie wäre nie darauf gekommen, dass Serena so von ihrem Gewicht besessen war. Gut, Serena war leicht vollschlank, aber nicht fett. Es war beinahe rührend zu sehen, dass sogar Serena eine Schwachstelle gehabt hatte.
»Daddy war sauer auf Mummy.«
Josies Worte waren bloß ein Murmeln nach einer kurzen Gesprächspause. Zuvor hatte sie von dem Pony erzählt, das sie sich zum Geburtstag wünschte, aber Kate hatte ihr nur mit halbem Ohr zugehört, während sie in den Diätartikeln blätterte, bis sie bemerkte, dass Josie verstummt war. Jetzt sprach sie ganz leise, als wollte sie Kate ein Geheimnis anvertrauen.
»Daddy und Mummy hatten am letzten Wochenende einen Riesenkrach.«
Kate sah das Kind prüfend an. Josie hatte ihre Unterlippe vorgeschoben und malte mit dem Finger Muster auf ihren inzwischen leeren Teller. Sogleich wurde Kate unbehaglich zumute. Sie hatte sich Mühe gegeben, Serenas Selbstmord nicht anzusprechen, so zu tun, als wäre er nicht geschehen. Aber offenbar beschäftigte Josie nichts anderes, und sie suchte nach einem Grund, weshalb ihre Mutter sich das Leben genommen hatte. Kate hätte ihr gern die Frage gestellt: Wovor hatte deine Mutter Angst? Aber es wäre falsch, ja geradezu moralisch verwerflich, das zu fragen. Also setzte Kate sich Josie gegenüber an den Tisch und überlegte, was sie tun könnte. Auf einmal sah das Mädchen unglaublich jung aus, zumal Josie das noch ungeformte Gesicht eines sehr viel kleineren Kinds hatte. Ihre Unterlippe bebte, und Kate bemerkte, dass ihr Tränen in den Augen schwammen. Am liebsten hätte Kate sie in die Arme genommen und ihr gesagt, dass alles wieder gut würde, aber das würde es natürlich nicht. Niemals. Josie hatte gerade eben die Leiche ihrer Mutter gesehen,
Weitere Kostenlose Bücher