Irgendwann Holt Es Dich Ein
vorsichtig.
»Immer noch diese Geschichte?« Richard sah sie verwundert an. Sein Erstaunen kam Kate gefühllos vor. Zugegeben, er wusste nichts von Serena, aber wie lange glaubte er denn, dass es dauerte, bis man über ein Ereignis hinweg war, wie sie es erlebt hatte? Immerhin hatte sie dabeigestanden, als sich eine alte Freundin vor die U-Bahn warf. Zwei Wochen waren doch wohl legitim, eher noch ein bisschen kurz. Kate jedenfalls erschien es vollkommen normal, dass sie noch trauerte und unter Schock stand. Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Was ist los, Richard? Was habe ich gemacht?«, fragte sie lächelnd, um die Stimmung zu entkrampfen.
»Es geht eher um etwas, was du nicht gemacht hast.«
»Und was?« Kate hatte keinen Schimmer, was er meinte. Und dann plötzlich fiel es ihr ein. »Mist! Sophie.«
Richard öffnete die braune Pappmappe, und Kate erkannte, dass es sich bei dem Inhalt um irgendeine Auswertung handelte - eine Tabelle mit Daten und Zeiten.
»Das Sophie-Interview hatte ich völlig vergessen«, sagte sie und ohrfeigte sich im Geiste.
Sophie - ohne Nachnamen - war ein aufgehender Stern am britischen Pophimmel. Jedenfalls wurde sie von ihrem Management als solcher beworben. Überdies war sie die Tochter eines der Hauptgesellschafter des Senders, was Richard vermutlich die größten Sorgen bereitete. Kate hätte am Vortag bis abends bleiben sollen, um Sophie zu interviewen. Gewöhnlich machte sie gar keine Interviews mit Showbiz-Leuten, aber Richard hatte sie gebeten, dieses eine ausnahmsweise zu übernehmen, weil sie es, in seinen Worten, »nicht versauen« würde. Und nun hatte sie es doch versaut.
»Wie zum Teufel konntest du das vergessen?« Er klang reichlich genervt. »Mensch, ich musste schließlich Chris nehmen! Und der hat es im Turbotempo gemacht, weil er die Nachrichten vorbereiten musste. Nur war sonst ja keiner da, also wurde das Ganze ein Riesenfiasko. Chris hat sich redlich bemüht, aber Ahnung von Interviews hat der nicht ... schon gar nicht mit Popstars ... Wie dem auch sei, der Vorstand verlangt einen vollständigen Bericht, denn Sophies Vater ist auf hundertachtzig, und ich fürchte, ich muss dich offiziell abmahnen, weil du einfach verschwunden bist. Falls du mir irgendeine Erklärung geben kannst, solltest du es jetzt tun.«
»Richard, ich hab's vermasselt. Eine ... Freundin hatte mich angerufen. Sie war auch mit Hattie, ähm, mit Harriet Fox befreundet. Sie war total aufgelöst, verzweifelt und wollte unbedingt, dass ich sofort zu ihr komme. Deshalb bin ich Hals über Kopf weg. An das Interview mit Sophie habe ich ehrlich nicht mehr gedacht. Klar, ich hätte in meinen Kalender sehen sollen. Ich hätte dir sagen müssen, wohin ich fahre. Ich hätte das Interview nicht vergessen dürfen. Ich hätte ... Okay, was auch immer, ich hab's versaut.«
Noch während sie sprach, war ihr klar, dass sie nicht hinter ihrer Entschuldigung stand. In Wahrheit wünschte sie, sie wäre noch viel früher verschwunden, wäre nicht zum Mittagessen draußen gewesen, sondern an ihrem Schreibtisch, als Serenas erster Anruf kam. Sie bereute, dass sie nicht schon viel früher den Sender verlassen hatte und zu Serena gefahren war - noch rechtzeitig, um sie zu retten.
Sosehr sie sich bemühte, Reue vorzutäuschen, wusste sie doch, dass sie wenig überzeugend war. Jedenfalls sah Richard nicht überzeugt aus. Vielmehr wirkte er verwundert und enttäuscht. Eine Weile sah er Kate schweigend an, zuckte dann mit den Schultern und blickte auf die Papiere vor sich. Schließlich räusperte er sich und erklärte Kate, dass ihm nichts anderes übrig bleibe, als ihr eine Verwarnung zu erteilen. Kate merkte, dass ihm unwohl dabei war, aber ihm waren die Hände gebunden. Einer der Hauptgesellschafter war empört; der Vorstand forderte Konsequenzen. Richard hielt den Kopf gesenkt, um sie nicht ansehen zu müssen, zog ein weiteres Blatt aus der Mappe und begann, den Text laut vorzulesen. Kate vermutete, dass die Personalabteilung ihm den Text vorgegeben hatte, der penibel erklärte, dass die mündliche Verwarnung ein erster disziplinarischer Schritt hin zu dem sei, was bei Fortsetzung des abgemahnten Fehlverhaltens zur Kündigung führe.
Natürlich wusste Kate, dass eine mündliche Verwarnung nichts war, rein gar nichts bedeutete. Zugleich aber bedeutete sie einen Makel in ihrer ansonsten unbefleckten Personalakte. Sie war die Vorstufe zur schriftlichen Abmahnung, der erste kleine Schritt auf dem Weg zur
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