Irgendwann Holt Es Dich Ein
Entlassung. Sollten der Vorstandsvorsitzende, die Gesellschafter und der Geschäftsführer irgendwann in Zukunft entscheiden, dass Kate zu viel verdiente und durch eine vollautomatisierte Sendung mit vorgefertigten Anmoderationen ersetzt werden müsse, würde ihnen diese mündliche Verwarnung immerhin schon ein wenig Munition liefern, um sie ohne Abfindung aus dem Job zu kicken. Das hatte sie bei anderen schon miterlebt. Kate machte Richard keinen Vorwurf. Eigentlich war er ein anständiger Kerl ... meistens. Vielleicht sollte sie ihm lieber alles sagen, ihm von Serena erzählen und von ihrer Ehe, die gerade den Bach runterging. Aber dann dächte er womöglich, sie versuche, die Verwarnung zu umgehen, und das wollte sie nicht. Sie warf sich ja selbst Unachtsamkeit vor, weil sie in diesem ganzen Desaster steckte. Und wenn sie sich noch verwundbarer zeigen würde, als sie ohnehin war, brächte sie das erst recht auf den Weg zur Kündigung.
Richards Bitte entsprechend, unterschrieb Kate das Formular und bestätigte damit, dass sie die Verwarnung akzeptierte. Was hätte sie auch anderes tun können? Verärgert und ein wenig verletzt stand sie auf und wollte hinausgehen. Nun blickte Richard erstmals wieder zu ihr auf, sah sie richtig an und fragte: »Wie geht es denn deiner Freundin?«
»Sie hat sich umgebracht.«
»Nein, nicht Harriet Fox. Ich meine die Freundin, bei der du gestern warst.«
»Ja, die meine ich auch. Ich habe sie gefunden. Sie hat sich erhängt.« Kate war bewusst, dass ihre Stimme hart und kalt klang, aber das kümmerte sie nicht.
»Verflucht, Kate, wieso hast du denn nichts gesagt? Entschuldige! Du hättest es mir sagen müssen. Wie fühlst du dich? Du musst ja vollkommen am Boden sein. Was zum Teufel ist denn eigentlich los?«
»Wenn ich das wüsste!« Mehr sagte Kate nicht, weil sie fürchtete, dass sie sonst gleich wieder in Tränen ausbrechen würde.
Als sie wieder an ihrem Schreibtisch saß, vergrub Kate das Gesicht in den Händen. Am liebsten hätte sie geschrien, jemanden geschlagen oder getreten. Sie steckte mitten in irgendeiner Sache, die sie nicht begriff.
Sie schaltete ihren Computer an und öffnete Outlook, um ihre E-Mails abzurufen. Ihr Postfach war voller ungelesener Nachrichten. Kein Wunder, das war es nach der Sendung häufig. Ungewöhnlich allerdings war der Absender der E-Mails. Der größte Teil schien von einem Internetforum zu kommen. Wie es aussah, war Kate irgendwann heute Morgen in einem Forum registriert worden, einem Internetforum für Eltern. Und jedes Mal, wenn jemand etwas an das Forum schickte, wurde Kate offenbar sofort benachrichtigt. Sie klickte die erste E-Mail an, las sie und löschte sie verärgert.
Das hat nichts zu bedeuten, sagte sie sich, während sie alle einhundertdreiundsiebzig Nachrichten aus dem Forum löschte, ohne noch eine zu öffnen. Es war nichts als ein weiteres Ärgernis an einem bereits schwierigen Tag. Wahrscheinlich hing es mit dem Geschenkkorb von gestern zusammen. Dieselbe PR-Agentur, die ihr den Korb geschickt hatte, musste sie auch bei diesem Forum eingetragen haben. Ihre E-Mail-Adresse war öffentlich, für jedermann zugänglich. Wer wollte, konnte sie also mühelos in einem Forum wie dem hier registrieren. Es war eine Werbeaktion, sonst nichts. Und Kate gab sich redliche Mühe, auch die Tatsache zu ignorieren, dass das Thema mit den meisten Zuschriften offenbar die Frage war, wie Arzte und Krankenhäuser Frauen mit mehrfachen Fehlgeburten behandelten.
Die Luft war so kalt, dass Kates Hals und Brust schmerzten. Vielleicht schmerzten sie auch, weil sie so angestrengt lief. Eigentlich lief sie im Winter nicht draußen, sondern lieber auf dem Laufband in ihrem Fitnessraum, wo es warm, hell und sicher war. Aber heute Abend musste sie raus. Sie brauchte Luft. Sie brauchte das Gefühl der Kälte auf ihrem Gesicht und in ihrer Lunge. Sie musste das Geräusch ihrer Füße auf dem Pflaster von Nordlondon hören.
Beim Laufen versuchte sie, einen klaren Kopf zu bekommen und den verpassten Interviewtermin zu vergessen, der ein dummer, unter den gegebenen Umständen jedoch verständlicher Fehler war. Ärgerlich, unprofessionell und blöd. Aber jetzt konnte sie ohnehin nichts mehr tun, um die Situation zu retten. Also sollte sie die Geschichte vergessen. Und die mündliche Abmahnung? Kate ärgerte sich, weil das einzige Interview, das sie je vergessen hatte, ausgerechnet das eine sein musste, das dem Vorstand so wichtig war. Auch das war
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