Irgendwann Holt Es Dich Ein
selbst zu bestimmen.
Gestern Abend auf dem Heimweg hatte Neil mehr über die Gemeinheiten ihrer ehemaligen Mitschülerinnen hören wollen. Und er hatte ihr jene Frage gestellt, die Kate eigentlich meiden wollte: »Haben sie dich tyrannisiert?«
Sie war froh, dass er die Frage im Wagen und nicht im Pub stellte, denn so konnte sie das Gesicht abwenden und sich ungerührt geben. »Herrgott, Neil, was denkst du denn?«, hatte sie in einem Tonfall erwidert, von dem sie hoffte, dass er gereizt und sachlich genug klang, um Neil annehmen zu lassen, er hätte eine selten blöde Frage gestellt.
Und es schien zu funktionieren. »Verzeih, ich vergaß! Du bist hart im Nehmen. Dir tut keiner weh. Niemand setzt Kate Callan zu.«
Trotzdem hatte etwas in seiner Stimme mitgeschwungen, was ihr nicht gefiel. Und dann, vor dem Haus in Tufnell Park, wurde die Situation unangenehm, weil Neil ihr anbot, bei ihr zu bleiben, was sie ablehnte. Zugleich war ihnen beiden bewusst geworden, dass der Wagen hierher gehörte und Neil folglich mit der U-Bahn zu der Wohnung unten in Euston fahren musste, in der er zurzeit unterkam. Als Kate ihn zum Abschied auf die Wange küsste, hatte sie sich gefragt, ob sie sich ihm gegenüber wie ein Schwein verhielt.
Diese ganze Geschichte - Hattie, Serena, Josie - wirkte sich auf Kates Arbeit aus, ebenso wie ihre Eheprobleme. Sie wusste, dass sie alles andere als in Topform war. Während der Sendung war sie geistesabwesend, konzentrierte sich nicht richtig auf das, was sie oder die Hörer sagten. Sie war nicht bei der Sache, reizbar, müde und ein bisschen verwirrt.
Falls ihr noch ein Hinweis gefehlt haben sollte, dass die heutige Sendung schlecht gewesen war, folgte der auf dem Fuße. Gleich nach dem Ende der Sendung wartete ihr Chef Richard vor dem Studio auf sie. »Kann ich dich kurz sprechen?«, fragte er und ging zu seinem Büro vor, ohne ihre Antwort abzuwarten. Er nahm es für selbstverständlich, dass Kate ihm folgte. Sie ahnte sofort, dass die Lage ernst war, denn normalerweise hätte er im Studio mit ihr geredet oder in ihrem Büro, vor allen anderen.
Richard blieb stehen, als Kate in sein Büro trat, und schloss die Tür hinter ihr. Oh, dachte sie. Geschlossene Tür. Das ist superernst. Er bat sie, sich zu setzen, nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, stützte sich auf die Ellbogen und zog dann eine Mappe zu sich, während er fragte: »Ist alles okay?«
Kate hasste das! Schlimmer konnte ein Vorgesetzter ein Gespräch gar nicht anfangen, schon gar nicht eines hinter verschlossenen Türen, bei dem er, wie Richard jetzt, hinter seinem Schreibtisch saß. Damit steckte Kate in der Zwickmühle. Irgendwas stimmte nicht. Offenbar hatte sie etwas falsch gemacht, einen Fehler, der eine dünne braune Aktenmappe erforderlich machte, die bedrohlich zwischen ihr und Richard auf dem Schreibtisch lag. Und nun bekam sie die Chance, sich zu entschuldigen, Schadensbegrenzung zu üben. Kate hatte keine Ahnung, was in der Akte stehen mochte, nur dass es wahrscheinlich eine schlimmere Verfehlung war als die bescheidene Sendung heute Vormittag.
Was sollte sie sagen? Sie war eine Frau, von der man erwartete, dass sie sich stets im Griff hatte, die niemals zuließ, dass ihr Privatleben ihren Job beeinträchtigte, die mit allem klarkam und nicht von ihren Gefühlen beherrscht wurde. Natürlich hätte sie ihrem Boss einfach die Wahrheit sagen können: dass sie gestern, zum zweiten Mal binnen zwei Wochen, Zeugin geworden war, als sich eine Bekannte das Leben nahm; dass sie einen Großteil des gestrigen Abends damit verbracht hatte, einen trauernden Teenager zu trösten; dass ihre Ehe schwierig war und sie von dem Mann getrennt lebte, mit dem sie seit sechzehn Jahren verheiratet war. Aber da sie nicht wusste, was sie sich hatte zuschulden kommen lassen, konnte sie auch nicht ahnen, welche Antwort die beste war. Zudem würde Richard möglicherweise übertrieben mitfühlend reagieren und ihr Urlaub geben, was wiederum in ihrer Akte vermerkt würde, und in der derzeit prekären Finanzlage des Senders war kein Job sicher. Ganz zu schweigen davon, dass die Aufzählung der jüngsten Ereignisse schon für Kate selbst unglaubwürdig klang, geschweige denn, für jemand anderen.
Richard betrachtete sie mit seinem geübten einfühlsamen Managerblick, während er an der braunen Mappe herumfingerte. Er fragte: »Kannst du einigermaßen schlafen? Du siehst nämlich fertig aus.«
»Naja, es geht so«, antwortete Kate
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