Irgendwann Holt Es Dich Ein
eben weiter« und rühmte sich ihrer Fähigkeit, »das Beste aus einem schlechten Job« zu machen. Kate hatte instinktiv geahnt, wie Shirley reagieren würde, sollte sie auch nur ein Wort von dem erwähnen, was man ihr in der Schule antat. »Hör auf zu jammern!«, hätte sie gesagt. »Denk lieber dran, was für ein Glück du hast!«
Neil wusste nicht, wie er mit dem, was Kate ihm erzählt hatte, umgehen sollte. Sie auf dem Dach zu sehen, so blass, verletzlich und jung, hatte ihm Angst gemacht. Jetzt jedoch stürzte sie sich auf ihr Curry, als hätte sie seit Tagen nichts Richtiges gegessen. Er mochte es, sie so essen zu sehen. Normalerweise aß Kate nämlich nie genug, wie Neil fand. Er vermutete, dass sie früher mal unter einer Essstörung gelitten hatte, was auch ihr geradezu fanatisches Fitnessprogramm erklären würde. Anscheinend trat oft beides gemeinsam auf: unterschiedliche Formen der Körperkontrolle, wenn man so wollte. Das wusste Neil von einer Doku, die er vor einiger Zeit gedreht hatte. Typisch dafür wäre überdies, dass Kate sich hin und wieder gehen ließ und sich wie jetzt geradezu auf eine Mahlzeit stürzte. Häufig handelte es sich dann um indisches oder italienisches Essen - unkompliziert und herzhaft -, das sie tatsächlich zu genießen schien. Und diese seltenen Momente beobachtete er gern. Heute kam ihm der Gedanke, dass sie vielleicht nicht zufällig mit solchem Appetit aß, nachdem sie sich einiges von der Seele geredet hatte.
Aber warum hatte sie ihm diese Dinge nicht schon längst erzählt? Einen Grund glaubte er zu kennen. Seit er sie kannte, war Kate immer schon verschlossen und auf ihre Selbstbeherrschung bedacht. Sie hasste es, schwach zu erscheinen, musste sich fortwährend beweisen. Und nun verstand er auch, warum sie so selten Schwäche zeigte: Ihre Verwundbarkeit hatte sie überhaupt erst zum Opfer der Schulmobber gemacht. »Kate«, sagte er und strich sacht mit dem Finger über die Innenseite ihres Unterarms. Weder fuhr sie zusammen, noch zog sie ihren Arm weg. »Ich wünschte, du hättest mir vorher davon erzählt.«
Sie zuckte bloß mit den Schultern.
»Erinnerst du dich, wie du gesagt hast, du wüsstest gar nicht mehr, warum wir noch verheiratet sind?«
Sie nickte.
»Ich denke, ein Grund zu heiraten, liegt doch darin, dass man sich dem anderen gegenüber öffnet. Darum geht es in einer Ehe: dass man dem Menschen, der einen liebt, auch die unschönen Dinge anvertraut, weil sie zu zweit leichter zu ertragen sind.«
Kates Miene ermunterte ihn weiterzureden. »Ich würde mir wünschen, dass du mir mehr vertraust, offener zu mir bist. Ich möchte gern alles über dich wissen.«
Während er sie aufmerksam beobachtete, spielte Kate mit einem Stück Poppadum auf der Tischdecke. Siebzehn Jahre waren sie verheiratet, und in Momenten wie diesem fragte er sich immer wieder aufs Neue, wie er zu einer so wunderschönen, verschlossenen und oftmals angespannten Frau gekommen war und was sie veranlasst hatte, sich in ihn zu verlieben.
»Neil, man kann nicht einfach lernen, anderen zu vertrauen«, entgegnete Kate, ohne zu ihm aufzusehen. »Für dich mag das gehen. Du bist in einer liebevollen Umgebung aufgewachsen, hattest Freunde, und alles war leicht für dich. Du hattest nie Grund, den Leuten um dich herum zu misstrauen, die sich dir als Freunde zeigten. Ich wette, mit dir haben sie nie die Freundschaftsbombe gespielt.«
»Freundschaftsbombe?« Neil hatte keine Ahnung, was sie meinte. Es gelang ihm, für eine Sekunde Kates Blick zu halten, und da erkannte er den tiefen Schmerz in ihren Augen.
»Ja. Ich weiß nicht mal, ob es diesen Ausdruck wirklich gibt oder das Spiel überhaupt einen Namen hat. Vielleicht existiert es gar nicht, nur in der bösartigen Phantasie der Mädchen, mit denen ich zur Schule gegangen bin. Jedenfalls dürfte es so ziemlich das Grausamste sein, was sie jemals mit mir gemacht haben.«
»Erzähl.« Neil nahm Kates Hand und hielt sie fest.
Das Schlimmste bei all den Streichen und Gemeinheiten war, dass sie ausnahmslos geplant schienen. Es kam ihr beinahe so vor, als träfen sich die anderen Mädchen des Jahrgangs regelmäßig irgendwo, um zu besprechen, was sie ihr als Nächstes antun könnten. Vielleicht war das tatsächlich so. Es war durchaus möglich, dass sie sich auf dem Schulhof beratschlagten, während Kate sich oben auf dem Dach versteckte. Natürlich konnte sie es nicht mit Sicherheit sagen, aber sie mussten die Sache geplant
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