Irgendwann Holt Es Dich Ein
Frage stellte, wurde ihm bewusst, dass diese einen außergewöhnlichen Eingriff in ihre Privatsphäre darstellte. Normalerweise hätte er sich im Gespräch langsam zu dem Punkt vorgearbeitet, an dem sein Gegenüber alle Vorsicht fallen ließ, und dann erst so eine Frage gestellt. Doch diesmal kam sie verfrüht und wirkte dreist und indiskret.
»Das hat doch nichts mit Ihrer Fernsehsendung zu tun, oder?«, entgegnete Susan mit einem scharfen Unterton, und Neil bemerkte ihre klaren Blick.
Ehrlichkeit schien ihm die beste Taktik zu sein. »Nein, ich interessiere mich persönlich für diesen Fall. Meine Frau ist mit Ihnen zur Schule gegangen - und mit Harriet und Serena.«
»Ach ja?« Ihre Ausdruckslosigkeit war geradezu unheimlich. Neil konnte nicht erkennen, ob sie interessiert, fasziniert oder zu Tode gelangweilt war.
»Kate Small. Kathryn.«
Erstmals zeigte sich der Anflug eines Stirnrunzelns. Offensichtlich hatte sie Mühe, sich zu erinnern, also musste Neil wohl oder übel den Namen benutzen, den Kate so sehr hasste. »Sie war das Chandler-Mädchen.«
»Ach ja! Ich habe sie bei Harriets Trauerfeier gesehen. Sie ist eine richtig hübsche Frau geworden. Leider hatten wir keine Gelegenheit, uns zu unterhalten.«
Es entstand eine Pause, und Neil überlegte bereits, was er als Nächstes fragen könnte, als Susan ihm zuvorkam. »Und wird sie ebenfalls ›bedrängt‹ ?«
War da eine Andeutung von Unglauben oder Verachtung in der Art, wie sie »bedrängt« gesagt hatte? Neil war sich nicht sicher. Und wie er antworten sollte, wusste er erst recht nicht. Hand aufs Herz: Er hatte keine Ahnung, ob die Dinge, die Kate bei der Arbeit erlebt hatte - der Geschenkkorb für die junge Mutter, ihre wirre Geschichte über einige E-Mails und das Internetforum -, schon eine Verfolgung darstellten oder schlicht dumme Zufälle waren, in die Kate aufgrund ihres gegenwärtigen emotionalen Ausnahmezustands mehr hineingelesen hatte. Also beantwortete er Susans Frage mit einem Achselzucken.
Sie zuckte gleichfalls mit den Achseln und zündete sich eine Zigarette an. »Es macht Ihnen hoffentlich nichts aus.« Sie bot ihm keine Zigarette an. Sie saßen in der feuchten Dezemberkälte in Lincoln's Inn Fields, und Susan rauchte ihre Zigarette mit der Intensität, die Neil schon bei der Trauerfeier aufgefallen war. Unterdessen musterte er ihr Profil und bemerkte ihr hartes Kinn, das hier und da ein wenig zu erschlaffen begann. In den Augenwinkeln hatte sie Krähenfüße, und einzelne graue Haare schimmerten inmitten der schwarzen. Es ist das Profil einer Frau, die frei von Eitelkeit ist, dachte er, einer Frau, die sich ihrer selbst vollkommen sicher ist.
Susan hatte ihre Zigarette schnell aufgeraucht, schnippte den Stummel auf die Erde und trat ihn mit der Spitze ihres glänzenden schwarzen Lederstiefels aus. »Ich weiß nicht, was Ihre Frau Ihnen über mich erzählt hat«, sagte sie, und zum ersten Mal hatte Neil das Gefühl, mit einem menschlichen Wesen zu sprechen. »Und ich will es auch gar nicht wissen. Belassen wir es dabei, dass die Schulzeit sehr lange her ist und wir uns alle verändert haben.«
Anscheinend war Susan noch verschlossener als Kate, was Neil bisher für unmöglich gehalten hätte. Er fragte sich, ob diese Eigenschaft an der Lady Jane Grey besonders gefördert wurde.
»Was das ›Bedrängen‹ angeht«, fuhr sie fort. »Diese anonymen Briefe, die Belästigungen und dergleichen, ja, man könnte wohl sagen, dass ich dem ebenfalls ausgesetzt bin. Letztes Jahr war ich mit einem sehr wichtigen Fall betraut, und hinterher erklärte ich mich bereit, einem juristischen Fachmagazin ein Interview zu geben. Ich dachte mir, dass ein bisschen Publicity dieser Art nicht schaden könne. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass in dem Artikel stand, wo ich zur Schule ging. Außerdem schrieben sie, dass ich unverheiratet bin. In den Wochen nach Erscheinen des Artikels kam es zu einigen seltsamen Ereignissen. Zunächst wurde ich ohne mein Wissen bei mindestens dreiundzwanzig verschiedenen Internet-Partnervermittlungsforen registriert, darunter eines, das sich auf Männer spezialisiert hat, die eine ...« Sie hielt kurz inne und runzelte wieder die Stirn. »... die eine Domina suchen, ja, das dürfte wohl der passende Ausdruck sein. Wer immer dahintersteckt, hielt es wahrscheinlich für einen tollen Scherz. Offenbar hatte er - oder sie - den Artikel gelesen und die Tatsache überinterpretiert, dass ich nach der Beschreibung Stiefel
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