Irgendwann Holt Es Dich Ein
jede dieser Frauen auf die eine oder andere Weise öffentliche Aufmerksamkeit erlangt hatte? Dass sie in Zeitschriften, in Zeitungen oder im Fernsehen zu sehen waren, offenkundig erfolgreich, wie Susan gesagt hatte? Das allein könnte schon ausreichen, um den Neid zu wecken, der seit Jahren in einer ehemaligen Lady-Jane-Grey-Schülerin schlummerte. Oder vielleicht hatte es in ihrem Leben eine unglückliche Veränderung gegeben: irgendeinen Schicksalsschlag, Arbeitslosigkeit oder eine gescheiterte Ehe. Und daraufhin hatte sie angefangen, nach Schuldigen zu suchen, und die ehemaligen Mitschülerinnen, die sie gepeinigt hatten, waren als ideale Sündenböcke erschienen.
Neil fand einen Coffee-Shop, wo er sich einen großen »Americano« und ein Chicken-Pesto-Panino bestellte. Er setzte sich an einen Tisch weit hinten, wärmte sich die Hände an seinem Becher und dachte nach, während er auf sein Sandwich wartete. Die anderen Tische waren gut besetzt: Geschäftsleute und Anwälte, die Mittagspause machten, Leute mit Tüten voller Weihnachtseinkäufe aus den Läden in Covent Garden. Kate hatte Weihnachten immer mit geradezu kindlicher Freude geliebt. Sie machte sogar gern Weihnachtseinkäufe. In diesem Jahr hatte sie das Thema Weihnachten bisher nicht einmal erwähnt. Keiner von ihnen wagte anzusprechen, ob sie Weihnachten zusammen verbringen würden oder nicht.
Verfluchter Mist!, dachte er und knallte seinen Kaffeebecher so fest auf den Tisch, dass die Frau am Nebentisch sich zu ihm umdrehte. Er hasste diesen Zustand. Er wollte wieder bei Kate sein, und er wollte, dass alles wieder normal wurde. Kate wirkte so unglücklich. Und er war gewillt, alles zu tun, um sie wieder glücklich zu machen.
Diese ganze verdammte Geschichte hatte eigentlich nicht das Geringste mit ihm zu tun. Selbst Kate war nur am Rande von ihr berührt. Vielleicht wäre Hattie gar nicht vor die U-Bahn gesprungen, hätte sie Kate nicht in ebenjenem Moment auf dem Bahnsteig gesehen, sodass sie an das erinnert wurde, was sie in der Schule getan hatte. Und Serena hätte Kate gar nicht erst angerufen, hätte sie nicht vermutet, dass Kate über Hattie Bescheid wusste. Alles war ein einziges Durcheinander, wirr und unverständlich. Und es hatte eigentlich gar nichts mit Neil zu tun.
Es war nicht seine Aufgabe, den Fall zu lösen. Das durfte er nicht vergessen. Er beschäftigte sich nur damit, weil Rosemary Fox ihn darum gebeten hatte. Ja, sie hatte ihn nach der Trauerfeier quasi in die Ecke gedrängt, und sie war eine niedliche, schrullige alte Dame. Er musste zu ihr gehen und ihr erzählen, was er herausgefunden hatte - was bisher nicht viel war. Natürlich faszinierte ihn der Fall. Wer wäre nicht neugierig geworden? Neil hätte gern eine Liste aller Mädchen aus Kates Jahrgang an der Lady Jane Grey, sodass er sie einzeln überprüfen könnte. Aber das war nicht seine Aufgabe. Er war Journalist und hatte bereits einen Job, er musste seine Sendung machen. Um den ganzen Mist hier, um die Briefe und die Selbstmorde, sollte sich die Polizei kümmern.
Doch das war natürlich auch problematisch, denn war die Person, die hinter den anonymen Briefen und Päckchen steckte, wirklich schuld an den Selbstmorden? Keine der Frauen - Hattie, Serena, Susan - war bereit gewesen, die Belästigungen anzuzeigen. Was sollte die Polizei da unternehmen? Neil wusste, dass er eigentlich nur inoffiziell einem seiner Polizeikontakte von der Sache erzählen konnte und sich dann besser raushielt. Kate würde sich schon wieder erholen. Sie würde drüber wegkommen. Schließlich hatte sie sich alles von der Seele geredet, all die schrecklichen Dinge, die ihr in der Schule widerfahren waren. Es war schwer, mit zwei schrecklichen Todesfällen zurechtzukommen, doch Kate war hart im Nehmen.
Jetzt, nachdem sie sich geöffnet und ihm von ihrer Kindheit erzählt hatte, konnten sie vielleicht wieder richtig miteinander sprechen. Vielleicht bekämen sie ihre Ehe wieder auf die Reihe. Okay, das mit den Kindern hatte nicht geklappt, aber damit konnte er leben. Dann blieben sie eben zu zweit, und alles wäre bestens. Über Weihnachten könnten sie verreisen, irgendwohin, wo es warm und exotisch war, weit weg, wo sie entspannen konnten. Dann war alles wieder gut.
NEUNZEHN
Ich muss dich sprechen«, sagte Richard, trat ins Studio und schloss leise die Tür hinter sich.
Kate spürte, wie ihre Schultern resigniert nach vorn sackten. »Nicht schon wieder!«, sagte sie, unfähig, ihre
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