Irgendwann Holt Es Dich Ein
ihm zu erlauben, bei ihr im Haus zu bleiben und weiter an der Offenheit und Nähe zu arbeiten, die in ihre Ehe eingekehrt waren. Wer weiß, vielleicht würde er tatsächlich alles nur schlimmer machen. Bei ihren Gesprächen waren sie an einen Punkt gelangt, wo er Kate aufgefordert hatte, sie solle »aufstehen und kämpfen«, und das war wohl mit Abstand das Schwachsinnigste, was er ihr an den Kopf werfen konnte. »Ich stehe seit Jahren immer wieder auf und kämpfe«, hatte sie zornig erwidert. »Und im Moment will ich nichts anderes als mich zusammenrollen und allein sein.«
Auf dem Weg nach Hause hielten sie an einer Raststätte. Dort herrschte deutlich mehr Betrieb als auf der Autobahn. Lauter Feiertagsreisende: erschöpft wirkende Familien; Kinder, die mit ihren neuen Spielsachen beschäftigt waren. Rentner in beigefarbenen Regenmänteln, die auf dem Wege nach Heathrow oder Gatwick waren, von wo aus sie in den sonnigen Süden fliegen wollten, um für zwei Wochen einen Billigurlaub an der Costa del Sol zu verbringen, mit Bingo und zwei Tage alten Daily Mails. Ein altes Ehepaar brachte Neil fast zum Heulen. Der Mann kümmerte sich rührend um seine Frau, und obgleich die beiden seit Jahrzehnten verheiratet sein mussten, war ihm deutlich anzusehen, dass er sie bis heute liebte. Neil fragte sich, ob Kate und er ihre Ehe jemals wieder ins Lot bringen würden. Tief im Innern fürchtete er, dass sie die Ereignisse, diesen Rachefeldzug, den jemand gegen Kate führte, nicht überleben könnte.
Als sie schließlich in Tufnell Park ankamen, sprachen sie höflich miteinander, allerdings nur oberflächlich, alles Wichtige wurde ausgeklammert. Es war, als hätte Kate beschlossen, dass es nichts mehr zu sagen gäbe - jedenfalls nicht Neil gegenüber. Er blieb im Wagen und beobachtete, wie Kate die Stufen zur Haustür hinaufging, eine schmale Gestalt in einem grotesk leuchtend grünen Mantel. Währenddessen redete er sich ein, dass es so am besten war. Kate brauchte Abstand, um mit allem fertigzuwerden; und in der Zwischenzeit konnte Neil weiter in dieser ganzen erbärmlichen Geschichte ermitteln, mit seinen Polizeikontakten reden und versuchen, mehr herauszubekommen, ohne sich sorgen zu müssen, wo Kate war. Dennoch schien es ihm, als würde ihr Weggehen ewig dauern. Er blies ihr einen Luftkuss hinterher, während sie die Tür aufschloss, aber sie drehte sich nicht um. Sie drehte sich nicht einmal her, um ihm einen letzten Kuss zuzuhauchen. Ein tiefer Schmerz regte sich in Neils Bauch, und Tränen schossen ihm in die Augen.
So schnell er konnte, fuhr er los. Er fuhr raus aus London, denn er wollte nicht in die Wohnung. Ziellos bewegte er sich nach Norden. Er kam an der Lady Jane Grey vorbei, und für einen Moment verspürte er das dringende Bedürfnis, einen Brandanschlag auf die Schule zu verüben - für alles, was sie Kate angetan hatte. Am Ende verfuhr er sich auf den laubbedeckten Straßen des ländlichen Hertfordshire. Er entdeckte eine Haltebucht und parkte. Der Himmel war immer noch bleiern dunkel, keine Andeutung von Helligkeit. So saß Neil am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertags in seinem Wagen und flennte sich die Seele aus dem Leib.
Er war wütend und traurig und hatte große Angst. Wütend war er, weil Kate so verdammt verschlossen war und ein Geheimnis aus ihrer Kindheit und Jugend machte. Nicht dass er alles von ihr hätte wissen wollen. Schließlich behielt wohl jeder einen Teil seiner Jugend für sich oder fand es zumindest unnötig, nahestehenden Menschen davon zu erzählen. Neil hatte Kate auch nicht viel über seine Zeit in der City erzählt, nach seinem Studium in Oxford, bevor er die Ausbildung zum Journalisten begann. Er hatte weder groß über die sexuellen noch über die anderen, wenig rühmlichen Aktivitäten geredet. Sie hatten zum Job dazugehört: das heftige Trinken, der Koks, die hektischen, anonymen One-Night-Stands. Sie waren nun mal Bestandteile jenes schweißtreibend frenetischen Lifestyles der Achtziger. Als er Kate kennenlernte, hatte das längst hinter ihm gelegen, ebenso wie offenbar auch ihre Partytage mit Hattie. Und beides spielte keine Rolle mehr. Deshalb verzichteten sie beide darauf, einander bewusst zu belügen oder in die Irre zu führen. Es gab keinen Grund, ins Detail zu gehen. Der andere musste keine Einzelheiten wissen, ebenso wenig, wie man ihm haarklein schildern musste, was man früher angezogen hatte.
Was Neil jedoch wütend machte, war Kates Heimlichtuerei im
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