Irgendwann Holt Es Dich Ein
Bezug auf ihre Schulzeit. Er konnte seine Frau so viel besser verstehen, seit er mehr über sie erfahren hatte: ihre distanzierte Zurückhaltung, die Tatsache, dass sie keine engen Freundinnen besaß. Vielleicht begriff er jetzt sogar besser, weshalb sie eingewilligt hatte, ihn so jung zu heiraten. Sie hatte nach Liebe, Zuneigung und Freundschaft gehungert. Dass ihr Zuhause ihr kaum Wärme geboten hatte, wusste er bereits. Aber erst jetzt wurde ihm klar, dass ihre Schulzeit sogar noch schlimmer gewesen war.
Wütend war er vor allem auf die Person, die Kate die Puppen geschickt hatte. Doch seltsamerweise richtete sich sein Zorn immer wieder auch auf Kate. Schließlich gehörte der Kummer nicht ihr allein; die Tragödie war nicht bloß ihre Tragödie! Bei jeder Fehlgeburt hatten sie gemeinsam getrauert, jedes Mal, wenn sich die zarte, magische Verheißung eines Babys in einer Blutlache auflöste. Trotzdem hatte sie ihn gestern und heute nicht an sich herangelassen. Glaubte sie denn, dass es ganz allein ihre Tragödie war? Dass sie die Einzige war, die dem entsetzlichen, heimtückischen Geschenk fassungslos gegenüberstand? Er hätte sie am liebsten angeschrien und mit ihr gestritten, damit sie begriff, dass es ihn ebenfalls schmerzte. Doch sie ließ es nicht zu. Sie sperrte ihn aus, und das war das Schlimmste überhaupt.
Die Leute dachten, Männer würden bei Fehlgeburten nicht trauern. Sie schienen anzunehmen, dass ihnen Aborte nichts ausmachten und sie mit einem schlichten Achselzucken darüber hinwegkamen. Dabei verkannten sie, wie sehr er sich ein Kind wünschte - nicht bloß ein Kind, sondern dieses Kind, dieses eine, das im wunderschönen Bauch seiner Frau entstand, das sie beide ins Leben gerufen hatten. Er wollte dieses Kind, sein Kind. Und nun quälte ein verfluchter Schulhoftyrann seine Frau. Und Neil und seine Ehe waren ins Kreuzfeuer geraten.
In langsamem Tempo fuhr er nach London zurück, in seine Wohnung auf Zeit. Er schloss auf und trug die Plastiktüte mit Lebensmitteln hinein, die er im rund um die Uhr geöffneten Laden an der Ecke gekauft hatte. Er stellte die Tüte in die winzige Küche und machte sich einen Kaffee. Den trank er am Fenster und starrte hinaus auf die Dächer von Bloomsbury. Kate wird schon wieder, sagte er sich. Sie braucht bloß Zeit. Und ich ebenfalls. Ich brauche Zeit zum Nachforschen. Als Erstes muss ich mit Anna und Richard in Kates Radiosender sprechen und herausfinden, wie und wann das Geschenk gekommen ist. Dann muss ich mit der Polizei reden und sie überzeugen, dass mein und Kates vager Verdacht bezüglich Serenas Mord durchaus ernst genommen werden sollte.
Er hatte einiges zu klären.
DREIUNDZWANZIG
Sagenhaft schlecht gemacht«, sagte David Steele, während er mit dem Finger an der Kante eines der kleinen Sperrholzsärge entlangstrich. »Schlampig zusammengezimmert, aber trotzdem grausam wirkungsvoll. Ich kann mir vorstellen, wie das für euch beide gewesen sein muss. Tja, leider muss ich dir sagen, solange deine Frau nicht selbst Anzeige erstattet, können wir rein gar nix machen.«
Dave Steele saß auf einem der billigen IKEA-Sofas in Neils Ausweichquartier. Es war der Tag nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag, und Dave hatte sich zu einem höchst inoffiziellen Besuch überreden lassen. Neil war ihm dankbar, dass er gekommen war, ebenso wie er Dave dankbar war, dass er genügend Takt besaß, ihn nicht zu fragen, warum er in dieser Wohnung und nicht in seinem Haus wohnte. Dave war nicht direkt in die Ermittlungen zu Serena Harcourts Mord involviert, aber dicht genug dran, um zu wissen, was vor sich ging. Und er war einer der wenigen Polizisten, denen Neil blind vertraute.
Schon immer hatte Neil sich gut auf das komplizierte Geben und Nehmen zwischen Polizei und Journalisten verstanden. Dave Steele gehörte zu der von Neil favorisierten Sorte von Polizisten, denen klar war, dass sie Journalisten ebenso sehr brauchten, wie die Journalisten die Polizei brauchten. Neil war Dave erstmals vor fünf Jahren begegnet, als Dave eine komplizierte Ermittlung in einer Serie von Banküberfällen leitete, die sich über den gesamten Südosten erstreckten. Anfangs waren sie beide sehr vorsichtig miteinander umgegangen, hatten aber im Laufe der Zeit nicht bloß Vertrauen zueinander gewonnen, sondern auch eine Freundschaft aufgebaut. Sie waren ungefähr im selben Alter und stammten aus ähnlichen Verhältnissen: Dave kam ursprünglich aus Leeds und hatte einen Jura-Abschluss
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