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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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in einer Aufnahme sechzig Punkte. Das gelang mir höchst selten. In der nächsten Aufnahme achtzehn, dann siebenundzwanzig, dann neun, fünfunddreißig. Statt verbissener zu werden, wurde ich immer lockerer. Schließlich hatte ich einen Lauf: Ich lochte Kugel um Kugel, bis ich bei fünfundneunzig Punkten stand. Fünfundneunzig Punkte. Jetzt noch eine Rote und mindestens die Braune, dann hätte ich das Century erreicht. Ich lochte rot. Sechsundneunzig Punkte. Die Weiße lief ein wenig zu weit. Sie lag günstig, um grün zu lochen. Das gäbe drei Punkte. Einer zu wenig fürs Century. Für die braune Kugel lag der Spielball nicht ganz so gut. Braun brächte vier Punkte. Braun brächte endlich das Century. Ich setzte den Queue an, brach den Stoß ab, setzte von Neuem an, brach noch mal ab. Umrundete den Tisch, ging in die Knie, kniff ein Auge zu, schwierig, aber möglich. Nicht zu hart, nicht zu dick treffen. Ich setzte an.
    Der Stoß war perfekt.
    Ich traf die braune Kugel exakt so, wie ich sie hätte treffen müssen. Aber leider gab es einen Kick. An den entscheidensten Stellen in den Matches gibt es oft einen Kick. Die meisten Fehler der Profis resultieren aus einem Kick. Immer dann, wenn die Weiße oder der Objektball verschmutzt sind, wenn es leichte Kreidespuren gibt oder statische Aufladung durch das Kammgarntuch. Ein Kick bedeutet, dass die weiße Kugel nach dem Kontakt mit der Objektkugel ein wenig hüpft und dadurch ihre Wirkung nicht richtig auf die Objektkugel überträgt. So war es auch bei mir: Die Braune lief zwar Richtung Ecktasche, aber durch den Kick ein wenig versetzt, sodass sie im Tascheneinlauf zitterte und schließlich auf dem Tisch liegen blieb.
    Ich strich eine Träne aus dem Auge.
    Am nächsten Tag wartete ich auf das Erscheinen meines Mörders. Er kam gegen Mittag. Ein Wasserflugzeug, er stieg aus, die vier Männer begrüßten ihn, er kam aufs Haus zu. In seiner Hand ein Koffer. Er nickte. Mein Mörder war etwa so groß wie ich, kräftiger gebaut, braun gebrannt, trug Strohhut und Maßanzug. Er ging an mir vorbei ins Haus. Ich folgte ihm. Wir setzten uns. Er zog aus einer Tasche die Pistole. Ich lächelte.
    »Jetzt also«, sagte er. »Stellen Sie sich auf die Plastikplane da drüben.«
    »Wie heißen Sie?«, fragte ich.
    »Das tut nichts zur Sache.«
    »Sie können es mir sagen, ich bin gleich nicht mehr.«
    Er schwieg.
    »Sie werden es nicht tun, oder?«, sagte ich. »Sie können es nicht tun. Es ist nicht mehr meine Absicht, dass es geschieht.« Und ich hielt meinen Monolog und sagte ihm, dass ich bereit wäre, alles für ihn zu tun, wenn er mich verschonte. Er wirkte nicht überrascht.
    »Das versuchen die meisten«, sagte er.
    »Sie haben schon öfter …?«
    »Sieben Mal.«
    »Aber diesmal können sie es nicht tun. Sie müssen eine Ausnahme machen.«
    »Warum?«
    »Ich, ich, ich muss noch ein Century Break schaffen.«
    »Sie haben gespielt?«
    »Ja.«
    »Wie lange?«
    »Ein paar Monate.«
    »Und? Was war Ihr höchstes Break?«
    »Sechsundneunzig.«
    »Das glaube ich nicht. Stehen Sie auf. Gehen Sie zum Plastik. Da drüben.«
    »Und wenn wir darum spielen? Einen einzigen Frame?«
    »Ich habe Ihnen vierzehn Monate geschenkt. Ich denke, wir haben einen Deal.«
    »Sie können doch keinen Menschen erschießen, der nicht erschossen werden will.«
    »Sie haben mir Ihr Leben verkauft. Es gehört mir jetzt. Aber«, er machte eine Pause, »ich bin froh, dass Sie nicht zetern und weinen und auf die Knie fallen. Ich hasse das. Ich drücke dann immer gleich ab.«
    »Warum tun Sie das? Was gibt Ihnen das?«
    »Einen Kick«, sagte er.
    »Einen Kick? Das ist alles?«
    »Reicht das nicht?«
    »Ein Kick«, rief ich, »ist der Feind jedes Snookerspielers, jeder Snookerprofi hasst Kicks. Ein Kick ist das Entsetzlichste, das Schlimmste, am liebsten würde ein Profi nach jedem Stoß die weiße Kugel vom Schiedsrichter reinigen lassen, um einen Kick zu verhindern, also lassen Sie sich nicht von …«
    »Verdammt«, unterbrach er mich. »Sie verstehen gar nichts. Der Kick ist die Krone des Snookers. Das Wichtigste. Das Schönste. Ein Kick ist das Überraschungsmoment schlechthin. Gefühlte achtzig Prozent aller Fehler, die ein Profi macht, resultieren aus einem Kick. Durch einen Kick wird das Spiel noch spannender, als es ohnehin schon ist. Ohne Kicks wäre alles viel berechenbarer. Ein Kick ist wie ein Schuss an den Innenpfosten. Ein möglicher Kick ist das Glücks- und Pechmoment im Snooker. Ein Kick ist das

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