Irgendwann ist Schluss
fünf Andersfarbige: pink, blau, grün, braun, gelb. Mike zeigte mir nun, wie man sich hinzustellen hatte, ein Bein gestreckt, ein Bein leicht gebeugt, denn ein Snookertisch ist höher als ein Pooltisch, dann die vier Berührungspunkte des Körpers mit dem Queue, die Bockhand, bei einem Rechtshänder die linke Hand, die auf dem Tisch liegt und auf der man die Spitze des Queues vor dem Stoß leicht hin- und herführt, als zweites das Kinn, das auf dem Queue zu liegen hat, weshalb der Ex-Weltmeister Graeme Dott manchmal ein Kinnpflaster trage, um die Reibung auf der Kinnhaut zu vermeiden, als drittes die Brust, die mit dem Queue in Berührung kommt, und als viertes natürlich die Stoßhand, die den Queue hält. So hat man völlige Kontrolle über den Queue. Da kann nichts verrutschen. Zunächst zielen. Von oben. Ein Bild des Stoßes im Kopf haben. Genau wissen, was man tun möchte. Dann erst das Hinabbeugen. In die Stoßhaltung gehen. Stoßen. Nach dem Stoß innehalten. Nicht den Queue verreißen. Ganz wichtig: Wenn man an den Tisch kommt, muss man eine rote Kugel treffen. Verfehlt man sie oder trifft eine andere oder versenkt die Weiße, ist es ein Foul. Der Gegner bekommt Bonuspunkte und ist am Spiel. Mir schwirrte der Kopf. Langsam, sagte ich.
»Es gibt fünfzehn rote Bälle«, sagte Mike, »sowie sechs anders farbige, die man einfach die Farbigen nennt. Man muss abwechselnd eine rote und eine farbige Kugel lochen. Für die Rote bekommt man je einen Punkt. Für die Farbigen je nach Farbe zwei bis sieben. Die roten Kugeln bleiben im Loch. Die Farbigen werden wieder rausgeholt und auf fixe Markierungen gesetzt, Spots. Bald beginnt die Weltmeisterschaft«, sagte Mike. »Schauen Sie doch ein paar Matches an.«
»Vielleicht können wir ja zusammen schauen?«, fragte ich.
Da sagte Mike: »Ich weiß nicht. Wenn ich mit Ihnen spreche, habe ich das Gefühl, mit einem Toten zu sprechen. Ich kann den Gedanken nicht ausradieren, was passieren wird in … in ein paar Monaten.«
Ich entgegnete ihm, er solle sich keine Sorgen machen, mir selber falle es ungemein leicht, den Endpunkt dieser Zeit hier zu vergessen, zu verdrängen. »Ich verschwende keine einzige Sekunde mit dem Gedanken an meinen Tod«, sagte ich. »Das wäre ja noch schöner. Ich bin hier, um mich zu amüsieren. Ich bin hier, um vierzehn Monate zu genießen. Nichtstun. Sonne. Meer. Das, wovon jeder träumt.«
Wir verbrachten immer mehr Zeit am Snookertisch. Mike erklärte, ich hörte zu und saugte alles auf. Beim Snooker geht es nicht nur ums Lochspiel. Im Gegenteil. Dazu ist der Tisch viel zu groß. Oft genug kommt man in Situationen, in denen man nicht lochen kann. Dann muss man eine Safety spielen, sprich, mit der Weißen zwar eine Rote treffen, aber die Weiße so zurücklaufen lassen, dass auch der Gegner keine Rote lochen kann. Ein Safety-Spiel zieht sich bei den Profis über zehn, zwanzig Minuten hin, und wenn die Weiße so gemein liegt, dass keine der Roten direkt angespielt werden kann, spricht man von einem Snooker. Das geschieht, wenn eine andersfarbige Kugel zwischen der Weißen und den Roten liegt, wenn man also nur über eine oder mehrere Banden an die Roten herankommt.
»Was heißt Snooker eigentlich?«, fragte ich.
»Unangenehme Lage«, sagte Mike.
Ich trainierte. Ich ging kaum noch nach draußen. Ich schlief, aß, trank, spielte. Lernte schnell. Dank Mikes Hilfe. Ich konnte den Beginn der Weltmeisterschaft kaum abwarten, sah zum ersten Mal Ronnie O’Sullivan live und wurde sofort zum glühendsten Verehrer, weil in seinem Spiel ein für Snooker untypisches Tempo lag, er zielte schon auf die nächste Rote, während Michaela Tabb, die Schiedsrichterin, noch die letzte von Ronnie gelochte Farbige aus der Tasche holte und auf ihre Markierung zurücklegte, ich liebte Ronnie, weil er, wenn die Weiße an einem für Rechtshänder ungünstigen Platz liegen blieb, mühelos den Queue von der rechten in die linke Hand wechselte und einfach mit links weiterspielte, beidhändig, ein Besessener, der unter Depressionen litt, und ich litt mit ihm, wenn er während des Spiels aufgrund eines dummen Fehlers die Lust verlor und nur noch mürrisch an den Tisch trat, wissend, dass er auch die nächste Kugel verschießen würde, litt mit ihm, wenn er aufstöhnte über seine Leistung und auf dem Stuhl an den Fingernägeln knabberte, in scheinbarem Desinteresse an den Stößen seines Gegners, und ich feuerte ihn an, wenn er im Tunnel war und Kugel um Kugel versenkte,
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