Irgendwann ist Schluss
genießen und dann in diesem Snookerraum zu enden, an einem Tisch der Firma Riley Renaissance, mit acht Beinen, dreisechsundfünfzig lang, einsachtundsiebzig breit, sechsundachtzig Zentimeter hoch und rund fünfzehnhundert Kilogramm schwer, an diesem Rechteck des Lebens, fest begrenzt, mit dieser fünf Zentimeter dicken Schieferplatte unterm hochflorigen Kammgarntuch, mit sechs Taschen, die vom Snookerfitter Max Josef Reinartz nach Originalschablonen der World Professional Billards & Snooker Association zugeschnitten worden waren und in die man die Bälle zu versenken hatte, den Tisch abräumen, bis nichts mehr da ist, und den Gegner ständig in eine unangenehme Lage zu bringen, was für ein Irrsinn, hier mit diesen zweiundzwanzig Kugeln zu jonglieren, aber noch nie, dachte ich, noch nie hat es auf dem Tisch ein Bild gegeben, das mit einem anderen Bild identisch gewesen wäre, ja, selbst wenn man alle bislang gespielten Situationen aller jemals gespielten Frames aller Turniere der Welt durch technischen Zauber übereinanderlegen könnte, so würde man keine zwei Bilder sehen, die vollkommen gleich wären, in jedem Frame rollen die Bälle anders als im Frame zuvor, und man muss mit jeder Gegebenheit neu zurechtkommen. Nur eins ist sicher: Irgendwann ist Schluss. Es wird immer so lange gespielt, bis es zu Ende ist. Seine Spannung erhält das Spiel dadurch, dass man niemals weiß, wann es endet. Selbst wenn jemand siebzehn zu null führt, kann der andere noch die nächsten achtzehn Frames und den WM -Titel gewinnen, unwahrscheinlich, aber möglich.
»Helfen Sie mir zu fliehen?«, fragte ich Mike.
Er baute die Kugeln auf.
»Wir könnten was aushecken.«
Mike ließ sich nicht beirren.
»Taktisches Spiel«, sagte ich, wusste aber bereits, als ich es sagte, dass es nur eine wirre Idee war, auf die sich Mike niemals einlassen würde.
Wir spielten. Ich lochte eine lange Rote, die ich als Shot to nothing angelegt hatte, ein Stoß ohne Fortsetzung. Eigentlich sollte man beim Lochspiel immer daran denken, die Weiße so auf dem Tisch zu platzieren, dass man nach dem Lochen weiterspielen, also die nächste Kugel versenken kann. Aber wenn es eine schwierige, lange Rote gibt, einen Ball, der sehr riskant ist, spielt man einen Shot to nothing. Sozusagen als Absicherung. Für den Fall, dass die schwierige Rote nicht ins Loch fällt, bringt man die Weiße hinter die kleinen Farben in Sicherheit. Damit der Gegner dann keine Chance zum Einstieg hat. Noch vor Monaten hätte ich mir einen solchen Shot to nothing überhaupt nicht zugetraut, jetzt aber folgte ich einfach einem Bild im Kopf, das ich von der WM aufgesaugt hatte, dem Bild, wie sich Shaun Murphy mit Doppelkinn und Adlerblick auf den Queue legt und zielt, und es gelang mir, ein überragender Shot to nothing. Ich jubelte.
»Jetzt will ich das Century«, rief ich. »Jetzt will ich alles.«
»Das Century«, sagte Mike, »dafür trainieren die Profis acht Stunden am Tag, und es gelingt ihnen ein paarmal pro Turnier. Von den Amateuren schafft es kaum einer.«
»Aber niemand hat so viel Zeit wie ich.«
»Nur noch zwei Monate«, sagte Mike.
»Bis dahin werd ich es schaffen.«
Ich schaffte es nicht. So sehr ich mich auch hineinkniete, so sehr ich meine ganze Leidenschaft in die Waagschale warf, ich schaffte es nicht. Ich hatte alle WM -Spiele aufgenommen und schaute sie immer wieder an. Wenn ich nicht übte, sah ich fern. Das Videotraining zeigte durchaus die erhoffte Wirkung. Ich verbesserte mich täglich. Die Bilder im Kopf halfen ungemein. Mein Spiel wies mehr und mehr Grundsicherheit in den Stößen auf. Immer seltener gab es totale Aussetzer. Ich lernte, das Tempo zu dosieren, lernte, leicht zu spielen, langsam, je langsamer man stößt, umso größer die Kontrolle. Dennoch scheiterte ich beim konsequenten Stellungsspiel, es gelang mir nicht, die Stöße so zu koordinieren, dass ein Century dabei hätte herausspringen können. Die zwei Monate verstrichen. Aber ich wollte nicht sterben, ohne ein Century Break erreicht zu haben.
»Wann wird er kommen?«, fragte ich.
»Morgen«, sagte Mike.
Ich hatte keine Angst. Ich übte meinen Monolog. Innerlich. Einen feurigen Monolog, mit dem ich meinen Mörder bestürmen wollte, mich am Leben zu lassen. Es war nicht vorstellbar, dass er den Abzug drückte.
»Warum haben Sie nicht mehr leben wollen?«, fragte Mike.
»Was wollen Sie hören?«, sagte ich.
In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich ging zum Snookertisch. Schaffte
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