Irgendwas geht immer (German Edition)
jetzt ein Foto. Pass gut auf. Und sag mir, wie du es findest.«
Oh mein Gott!
Ich habe ein Foto von mir gepostet, auf dem meine Brüste aus dem Kleid hängen. Es ist absolut grauenhaft. Oh mein Gott! Was hat er darauf geantwortet? Nichts. Oh mein Gott! Nichts. Stille. Jetzt habe ich auch noch X -Man vergrault. Und dabei habe ich ihn noch nicht mal gesehen. Ich bin eine komplette Vollidiotin. Mit potthässlichen Titten.
ZWEIUNDSECHZIG
MO
Er kam diesen Morgen zielstrebig in mein Zimmer und setzte sich. Es war unsere dritte Sitzung, und keine davon war verlaufen, wie sie hätte verlaufen sollen. Weit davon entfernt.
»Ich habe letztes Mal gesagt, ich müsste nachdenken«, fing ich an. »Seitdem habe ich nichts anderes getan. Nun, ich sage ›nachdenken‹, aber in Wahrheit scheint mein Gehirn überhaupt nicht mehr zu funktionieren … tut mir leid, was ich sagen will, ist … so gern ich auch … aber ich glaube, wir können so nicht weitermachen …«
Er erhob sich. »Steh bitte auf.«
Es war eine einfache und doch seltsame Bitte. Ich stand auf. Er starrte auf meinen Mund. Oh Gott, war da etwas? Automatisch hob ich die Hand und betastete ihn. Klebten noch Toastkrümel daran, oder hatte ich einen Marmeladenschnurrbart? Aber da war nichts. Trotzdem konnte er den Blick nicht abwenden.
Dann sah er mir in die Augen. »Mo, ich muss wissen, wie es sich anfühlt, dich zu küssen. Und ich bitte dich nicht um Erlaubnis. Sondern ich warne dich nur, dass ich dich jetzt küssen werde. Jetzt, in diesem Moment.«
Und damit ging er drei Schritte auf mich zu. Ich war wie gelähmt. Gleich würde es passieren. Und die Spannung war so gewaltig, dass ich keine Luft bekam. Plötzlich bemerkte ich, dass ich meinen Block und meinen Stift noch in der Hand hielt. Mein Block in der bildschönen alten Ledermappe. Die mir mein reizender Ehemann geschenkt hat. Der wunderbare alte Ledermann. Aber jetzt ist er doch nicht hier, in diesem Moment, wenn ich im Begriff stehe, von einem attraktiven Mann Anfang dreißig geküsst zu werden, oder etwa doch?
Ich drehte mich um und legte den Block beiseite. Dieser kurze Moment der Ablenkung wäre meine Chance gewesen, der Situation zu entkommen, doch ich verwarf den Gedanken augenblicklich und drehte mich wieder um. Ich bin groß, wenn auch nicht so groß wie er, und ich musste den Kopf schief legen, um ihn ansehen zu können. Er packte mich weder an den Armen, noch riss er mich in einer leidenschaftlichen Umarmung an sich. In gewisser Weise hatte ich mir genau das gewünscht. Ich hatte mir ausgemalt, dass genau das in einem solchen Moment passieren würde. Wie verhält man sich in einem Moment wie diesem? Ich war noch nie in einer solchen Situation. Ich kenne sie aus Filmen, habe sie aber noch nie selbst erlebt. Ist das mein Leben ?
Behutsam hob er mit dem Zeigefinger mein Kinn an und beugte sich vor. Ich spürte seinen Atem, roch das Zitrusaroma seines Aftershaves. Ich konnte die feinen Poren seiner jugendlichen Haut erkennen. So dicht, so unmittelbar vor mir. Dann legte er beide Hände um mein Gesicht. Es war, als sehe er geradewegs in mich hinein. »Was wirst du tun? Mal sehen …«, flüsterte er.
Seine Berührung, so zart. Seine Lippen, so weich. Sein Atem, so schwer. Der Geschmack seiner Zunge. Das Leben, das in ihm pulsierte. Unser Atem, der sich vermischte. Er nahm sich diesen Kuss. Stahl ihn mir. Dann zog er mich enger an sich, schloss die Arme um mich. Diesmal fühlte sich die Umarmung völlig anders an. Er küsste mich, ganz vorsichtig, um zu sehen, ob ich den Kuss erwiderte. Es war unmöglich, es nicht zu tun. So herrlich. Jeder Gedanke, alles um mich herum schien zu verschwimmen, bedeutungslos zu werden. Mir diesen Kuss zu gestatten, war eine solche Erlösung, dass es, kaum hatte ich die Schwelle einmal überschritten, kein Halten mehr gab. Mit einem Mal fühlte ich mich in eine andere Zeit zurückversetzt, lange vor meiner Ehe, vor den Kindern, der Arbeit und der Uni; zurück in eine Zeit der Sorglosigkeit, fern jeder Verantwortung und Pflicht, eine Zeit, in der man selbst bestimmen durfte, ob dieser Kuss über Stunden andauern durfte. Eine Zeit, in der man zu sterben glaubte, wenn man die Lippen auch nur für wenige Sekunden voneinander löste.
Und genau das taten wir. Noel und ich. Während meine Freunde und Kollegen nur durch eine dünne Wand von uns getrennt waren, sich in Therapiesitzungen befanden, am Empfang oder auf der Toilette saßen oder die Fische fütterten,
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