Irgendwo dazwischen (komplett)
Jahre
später nur noch schwanger sein würde. Ich wusste nicht, dass ich nach Finnland
ziehen würde, und ich wusste nicht, dass ich umsonst studieren würde, weil man
fürs Muttersein kein geisteswissenschaftliches Studium braucht. Ich wusste
nicht, dass ich eines Tages dieses Foto voller Verachtung ansehen würde, weil
es mich an eine Zeit erinnert, in der ich frei war. Ich war unbeschwert. Alles
stand uns offen. Alles war möglich. Die Zukunft war greifbar nah und doch noch
weit genug weg. Das Leben bestand aus Liebe und Freundschaft und Sex. Ich habe
nicht diese Verantwortung tragen müssen. Ich war leicht. Aber damals war mir
das nicht wirklich bewusst. Mir war nicht klar, dass ich in der
unbeschwertesten Phase meines Lebens steckte. Sex am Strand, im Meer, im
dunkelgrünen VW-Bus... Joakims Hände auf meiner Haut. Lagerfeuer, gegrilltes
Fleisch, Sonne und das Rauschen der Wellen. Sternenklare Nächte, gierige Küsse,
Lebenshunger. Lange Gespräche, große Träume und die beste Gesellschaft. Wir
sind einfach weggefahren. Und aus zwei Wochen wurden vier. Einfach, weil wir
noch nicht nach Hause wollten.
Sowas wäre
heute nicht mehr drin. Heute wären da Vincent und Luis. Sie würden Sonnenbrand
bekommen, sie würden sich streiten, wer mit dem Sandspielzeug spielen darf, sie
würden ohne Schwimmflügel ins Meer rennen und ich hochschwanger hinterher. Sie
würden nicht schlafen wollen, und Joakim würde nicht im Meer mit mir schlafen,
weil Luis sich die Knie aufgeschürft oder Vincent sich die Ellenbogen
aufgeschlagen hätte. Sie würden weinen und schreien, weil die Mückenstiche sie
wach halten würden. Und wenn nicht Vincent und Luis das Problem wären, dann die
Tatsache, dass Elias nicht dabei sein könnte, weil er nur noch arbeitet. Lili
hätte gerne ein Kind, aber der dazu nötige Geschlechtsakt hat schon viele
Monate nicht mehr stattgefunden. Und auch Paul wäre nicht da, denn Paul ist
nicht mehr Teil von Maries Leben. Marie lebt in Hamburg mit einem Kerl namens
Markus, den weder Lili noch ich je zu Gesicht bekommen haben. Paul ist
Vergangenheit, Elias ist in Sachen Beziehung komatös, und ich bin schwanger.
Durch
dieses Foto wurde ein perfekter Moment eingefroren. Das Foto erinnert mich
daran, dass ich einmal große Träume hatte. Es erinnert mich daran, dass ich
Freunde hatte. Und es erinnert mich daran, dass ich heute weder das eine noch
das andere habe. Stattdessen habe ich ein schönes Haus mit Garten, nette
Nachbarn und bald drei Kinder. Ich bin noch nicht einmal achtundzwanzig und
dennoch habe ich manchmal das Gefühl, als wäre mein Leben bereits vorbei.
Marie
„Was ist
denn die letzten Tage nur los mit dir?“, fragt Markus verständnislos.
Ich habe
auf diese Frage gewartet. Ich wusste, dass sie kommen würde. „Ich bin einfach
nicht glücklich“, sage ich kälter als ich es will.
„Meinetwegen?“
In seinen dunkelbraunen Augen sehe ich Unsicherheit, die man dort nicht oft
sieht.
„Ich weiß
es nicht genau.“ Das ist nicht einmal völlig gelogen.
„Hat es
vielleicht etwas mit dem Brief zu tun, der unter deinem Kopfkissen liegt?“
„Hast du
ihn gelesen?“, frage ich fassungslos.
Er
schüttelt den Kopf. „Nein, aber vielleicht sollte ich das.“
„Dieser
Brief ist persönlich“, sage ich leise.
„Wer ist
dieser Paul?“
„Du hast
ihn also doch gelesen!“, schreie ich ihn an.
„Nein, ich
habe nur geschaut, ob er von einem Kerl ist...“ Ich stehe auf und hole mir ein
Glas Wasser aus der Küche, dann setze ich mich wieder zu ihm an den Tisch. „Wer
ist Paul?“, fragt er ein zweites Mal.
„Mein
Exfreund.“
„Aha...“,
sagt Markus mit hochgezogenen Brauen. „Und wieso zum Teufel versteckst du einen
Brief von deinem Exfreund unter dem Kopfkissen?“
„Ich habe
ihn nicht versteckt. Und was hattest du überhaupt unter meinem Kissen zu
suchen?“, schreie ich Markus an.
„Ich habe
die Betten gemacht“, schreit er zurück.
„Das machst
du doch sonst auch nie!“, fauche ich. Lange schauen wir uns nur an. So wie zwei
Raubtiere, die sich jeden Augenblick zerfleischen werden.
„Zweifelst
du an uns?“ Ich schaue ihm in die Augen. Ich zucke mit den Schultern. „Du weißt
es nicht?“, fragt er fassungslos.
„Nein,
Markus, ich weiß es nicht.“
„Und was
ist mit Köln?“
„Das weiß
ich auch nicht“, sage ich leise.
„Nur wegen
diesem beschissenen Brief, weißt du nicht...“
„Das ist
kein beschissener Brief!“, unterbreche ich ihn.
Mit
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