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Irgendwo dazwischen (komplett)

Irgendwo dazwischen (komplett)

Titel: Irgendwo dazwischen (komplett) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Freytag
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wollte, dass du weißt, dass es
mir Leid tut, dass ich dich so eingeengt habe. Und ich wollte, dass du an mich
denken musst, weil ich auch nicht aufhören kann, an dich zu denken. Ich wünsche
mir, dich irgendwann einmal wieder zu sehen... in ein paar Jahren vielleicht,
wenn mein Leben nicht mehr so nach Sackgasse aussieht. Wenn ich meine Wunden
lange genug geleckt habe. Wenn ich mich nicht mehr fühle wie ein getretener
Hund.
    Wir
hatten unzählige wunderschöne Momente. Zahllose Kleinigkeiten, die uns
zusammengeschweißt haben. Und jeder Moment und jede Kleinigkeit sticht mich nun
von innen. Mir tut alles weh. In mir zerbricht eine Welt. Und trotzdem danke
ich dir für diese unzähligen wunderschönen Momente und die zahllosen
Kleinigkeiten, auch wenn sie mich jetzt stechen.
    Ich
liebe dich,
    Paul
    Ich wische
mir die Tränen aus dem Gesicht. Als ich diesen Brief zum ersten Mal gelesen
habe, lag ein fremder Mann in meinem Bett. Ich habe nichts für ihn empfunden,
aber ich habe mit ihm geschlafen. Damals dachte ich, so könnte ich den Schmerz
betäuben. Ich dachte, so würde ich wenigstens für ein paar wunderbare Minuten
nicht an ihn denken müssen. Natürlich war das absoluter Quatsch. Das war der
schrecklichste Sex meines Lebens. Total verkrampft lag ich unter einem Fremden,
der sich völlig falsch bewegte, der völlig falsch roch und der völlig falsch
küsste. Die Ironie an der ganzen Geschichte ist, dass ich an dem Tag, als ich
diesen Brief bekommen habe, an meiner Entscheidung gezweifelt habe. Ich bin
morgens neben dem Fremden aufgewacht und wusste, dass ich nur einen wirklich
will, und das war Paul. Ich wollte ihn anrufen, sobald der Fremde gegangen
wäre, doch Pauls Brief kam mir zuvor. Sicher, ich hätte ihn trotzdem anrufen
können. Aber ich habe es nicht getan. Ich habe seinen Brief als Abschiedsbrief
genommen und still und heimlich gelitten.
    Ich greife
nach dem zweiten Karton. Vielleicht habe ich ja da die weniger traurigen
Erinnerungen eingesperrt. Ich öffne den Deckel. Ein dicker, fetter Stapel
Fotos. Jedes hat eine Geschichte. Und gerade, als ich die Schachtel wieder zumachen
will, sticht mir eines ins Auge. Ich ziehe es vorsichtig hervor. Auf dem Bild
ist ein dunkelgrüner VW-Bus. Die Schiebetüren sind offen. Der Himmel ist
wolkenlos, die Sonne brennt vom Himmel. Sechs strahlende Gesichter. Joakim,
Elias und Paul sitzen im Bus. Emma, Lili und ich auf ihren Schößen. Mein Blick
fällt auf Paul und mich. Seine Arme sind um mich geschlungen, meine Hände
liegen auf seinen. Jede Pore in unseren Gesichtern scheint vor Freude zu
platzen. Neben uns Elias. Lili sitzt mit angezogenen Beinen auf seinem Schoß,
er greift mit seinen Armen um sie herum und verschränkt die Hände auf ihren
Knien. Ihr Kopf liegt auf seiner Schulter. Ihr Mund steht weit offen. Sie
lacht. Emma streichelt mit den Händen über Joakims Gesicht. Seine großen Hände halten
sie am Bauch. Damals wussten sie noch nicht, dass Vincent kommen würde. Damals
wusste ich nicht, dass ich mich von Paul trennen würde. Damals ahnte ich noch
nicht, dass unser Kontakt nach und nach verkümmern würde...
     
    Emma
    „Ich bin am
Telefon, Vincent!“
    „Aber Mama,
du hast gesagt...“, wimmert er in einer quengeligen Stimme.
    Ich halte
den Hörer mit meiner linken Hand zu. „Es ist mir egal, was ich gesagt habe“,
unterbreche ich ihn streng, „ich bin am Telefon. Du musst warten...“ Seine
Augen füllen sich mit Tränen. Mit seinen kleinen Händen wischt er sie trotzig
weg und schleicht langsam den Flur hinunter. „Ja, entschuldige, ich bin wieder
dran... Joakim ist an der Uni, wo sonst... ja, er... warte mal kurz... Was ist
denn nun schon wieder, Vincent?“
    „Luis ist
aufgewacht.“ In seinem Gesicht ein verschmitztes Lächeln.
    „Hast du
ihn geweckt?“, schreie ich ihn an. Er schüttelt hastig den Kopf. Nervös reibt
er seine Handflächen aneinander. Das tut er immer, wenn er lügt. „Vincent, hast
du Luis aufgeweckt?“ Dann höre ich lautes Schreien aus dem Kinderzimmer. „Lili,
es tut mir leid... ja, Luis ist wach... ja, ich rufe dich an... Tschüss...“ Ich
schaue Vincent verärgert an, dann hieve ich mich aus dem Sessel und gehe ins
Kinderzimmer. Vincent folgt mir. Meine Füße sind geschwollen, mein Kreuz bringt
mich fast um.
    Luis steht
schreiend in seinem Bett und streckt mir seine Arme entgegen. Sein kleines
Gesicht ist knallrot, seine Augen wässrig. „Schschsch... es ist alles in
Ordnung“, sage ich sanft, als ich ihn

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