Irgendwo dazwischen (komplett)
freuen.“ Er schaut mir tief
in die Augen. Er schaut so tief in meine Augen, dass ich fürchte, er kann in
mein Gehirn schauen und meine Gedanken lesen. Das macht mich nervös.
„Nimm es
mir nicht übel, Marie“, sagt er dann und schaut weg, „aber ich denke, das wäre
keine so gute Idee.“ Mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet, auch, wenn
ich im Grunde damit hätte rechnen müssen. Ich versuche, mir nicht anmerken zu
lassen, wie sehr mich seine Ehrlichkeit kränkt. Mein Handy vibriert in meiner
Hosentasche, und ich weiß, dass es Lili ist, die sich wundert, wo ich bleibe.
„Marie, ich meine das nicht böse...“
„Nein,
nein, ehrlich ist schon gut“, unterbreche ich ihn. „Kein Problem.“ Ich schaue
auf die Uhr. „Jetzt muss ich aber wirklich los.“ Ich bücke mich nach meiner
Tüte.
„Nein,
warte...“ Ich spüre, wie Tränen in meine Augen steigen. Bleibt bloß da
drinnen, ihr Tränen, verstanden? Ihr dürft erst raus, wenn er weg ist. Bleibt
bloß da drinnen. „Meine Freundin wäre sicher nicht begeistert, wenn ich zu
dir komme...“
Erst sage
ich nichts. Dann räuspere ich mich. „Ist schon okay.“ Meine Stimme klingt
belegt. „Das verstehe ich.“
„Ich bin
glücklich, und ich habe echt lange gebraucht, um über dich weg zu kommen.“
„Es freut
mich, dass du glücklich bist“, lüge ich. „Ehrlich...“ Er schaut noch einmal auf
die Uhr. „Geh schon... sie wartet.“
„Auf dich
scheint auch jemand zu warten“, sagt er und zeigt auf meine Hosentasche, die
schon wieder vibriert.
„Ja,
Lili...“, antworte ich und frage mich im selben Moment, warum ich das gesagt
habe.
„Ach so.“
Er lächelt. „Und sonst wartet niemand?“ Ich schüttle den Kopf.
„Markus ist
in Köln. Und Hannes ist verheiratet.“ Er schaut mich mit hochgezogenen Brauen
fragend an. „Deine beiden Nachfolger.“
„So, so...
Wollen wir noch eine rauchen?“, fragt er schließlich. „Du rauchst doch noch,
oder?“
„Es hat
sich vielleicht viel geändert, Paul, aber das nicht.“ Er lächelt. Und auch wenn
ich nicht mehr rauchen würde, dann würde ich eben jetzt wieder damit anfangen.
„Was machst du beruflich?“ Es passt gar nicht zu mir, solche Dinge zu fragen.
„Ich bin
Lektor.“
„Ach
ehrlich?“ Er nickt. „Lili schreibt gerade ihren ersten Roman, vielleicht kannst
du ihr ja helfen?“
Er zündet
sich die Zigarette an. „Klar, ich kann’s versuchen...“ Er hält mir seine
Schachtel entgegen.
„Danke.“
Ich nehme eine Zigarette. Er reicht mir ein Feuerzeug. Für den Bruchteil einer
Sekunde berühren sich unsere Hände. Und auch wenn es albern klingt, diese
winzige Berührung ist wie ein Stromschlag.
„Und was
machst du?“
„Ich fange
kommende Woche bei einer Agentur als Innenarchitektin an.“
„Du bist
Innenarchitektin?“ Ich nicke. „Doch keine Mode?“
„Nein, doch
keine Mode...“ Er holt eine Flasche Apfelschorle aus einer seiner Tüten und
macht sie auf.
„Innenarchitektin
also.“ Er nimmt einen Schluck und hält mir die Flasche entgegen. „Die Brille
ist gut. Gefällt mir.“ Ich nehme die Flasche mit der einen und schiebe das
Brillengestell mit der anderen reflexartig ein Stückchen hoch.
„Vielen
Dank.“ Mein Handy vibriert ein drittes Mal.
„Willst du
nicht dran gehen?“
Ich
schüttle den Kopf. „Und deine Freundin? Was macht die beruflich?“
„Sie
studiert noch.“
„Aha, und
was?“
„Veterinärmedizin...“
Ich trinke
einen Schluck. „Hast du ein Foto von ihr?“ Warum tue ich mir das an? Wie kann
man nur so dumm sein. Genau das scheint auch Paul sich zu fragen. Doch dann
nickt er und zieht sein Handy aus der hinteren Hosentasche. Er tippt wild auf
dem Display herum, dann reicht er es mir. Das erinnert mich an die Situation
mit Helene. Nur mit dem Unterschied, dass ich damals tief in mir wusste, dass
er eigentlich nur mich will. „Sie ist wirklich hübsch.“ Ich versuche gelassen
zu klingen und gleichzeitig meine Tränenkanäle in Schach zu halten. Sie hat
naturrotes langes Haar, tiefblaue Augen, und ein paar vereinzelte
Sommersprossen auf zarter Alabasterhaut. Ihre Lippen sind sinnlich und voll,
ihre Zähne strahlendweiß. „Sehr hübsch sogar...“ Genau das habe ich damals bei
Helene auch gesagt. Das scheint mehrere Jahrhunderte her zu sein. Ich gebe ihm
das Handy zurück.
„Danke.“ Er
steckt es wieder ein. Eine Weile schauen wir uns wieder an. „Marie, es ist
nicht, dass ich nicht kommen will, ich kann es einfach
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