Irgendwo dazwischen (komplett)
unsere Kinder aufgeben?“ Ich schaue zu Boden.
„Nicht genug, dass du mich aufgeben würdest, uns aufgeben würdest, aber
unsere Kinder?“
„Ich gehe
nicht zurück. Das ist mein letztes Wort.“ Und auch, wenn es hart klingt, ich
weiß, dass das die richtige Entscheidung ist. Es ist die einzige Entscheidung.
Entweder er tut jetzt für uns, was ich vor sechs Jahren für uns getan habe,
oder er tut es nicht. Und wenn er es nicht tut, dann soll er gehen. Aber ich
bleibe hier. Im schlimmsten Fall allein.
Marie
Ich gehe
die Straße entlang. Lili ist zu Hause und kocht. Vor einer Stunde wurde mein
neuer Fernseher geliefert. Ein vierzig Zoll Flachbildschrim. Ich wechsle die
Straßenseite. Die Sonne ist hinter den Häusern verschwunden. Der Himmel ist in
tiefes Rot gehüllt. Ich ziehe einen Zettel aus meiner Tasche. Milch, Eier,
Hühnerbrustfilets, Schinken, Zucker, Reis und Zigaretten .
Ich stecke
meine Plastikmarke in den Einkaufswagen. Die elektrische Tür öffnet sich und
ich schiebe meinen Wagen in Richtung Kühlregal. Hühnerbrustfilets, Milch und
Eier hab ich. Ich wende meinen kleinen Wagen und steuere zielsicher auf den
Schinken zu. Kurz vor der Frischetheke drängelt sich ein Kerl vor mich. Im
Schneckentempo kriecht er vor mir her. Na solche Leute liebe ich ja. Drängeln
sich vor, und dann trödeln sie so rum. Da der Gang sehr schmal ist, kann ich
ihn nicht überholen. Es macht mich krank, wie manche Menschen schleichen. Bei
alten Menschen ist das ja kein Problem, aber der Typ vor mir ist maximal
dreißig. Und als wäre die Schleicherei noch nicht schlimm genug, bleibt er
plötzlich völlig unvermittelt stehen und schaut in das Regal rechts neben sich.
Ganz gemächlich streckt er seine Hand aus und greift nach einem Glas Honig.
Dann stellt er es wieder weg und inspiziert den Akazienhonig, der daneben
steht. Gleich platzt mir der Kragen. „Entschuldigen Sie“, sage ich gequält
höflich, „aber entweder entscheiden Sie sich heuer für einen Honig, oder Sie
lassen mich vorbei...“ Langsam dreht sich der Kerl um. Wie in Zeitlupe. Er
scheint alles langsam zu tun. „Lassen Sie sich ruhig Zeit“, sage ich genervt.
Und dann sehe ich sein Gesicht.
Ich kann
mich nicht bewegen. Mein Mund ist trocken und meine Knie zittern. Lange schauen
wir uns an. Er hält noch immer den Honig in der Hand.
„Marie...“
Ich will etwas sagen, aber es kommt nichts raus. Ich öffne meine Lippen, doch
meine Zunge ist wie gelähmt. Er strahlt mich an. Mit aufgerissenen Augen starre
ich in seine.
„Entschuldigen
Sie bitte, aber kann ich mal vorbei...“ Ich drehe mich um und sehe eine ältere
Dame, die versucht, ihren Wagen an meinem vorbei zu manövrieren. Ihr Anblick
haucht mir wieder Leben ein.
„Ähm, aber
sicher...“ Ich schaue zu Paul. Langsam schieben wir unsere Wägen durch den
Gang. Die ältere Dame lächelt und geht an uns vorbei. Seit Wochen habe ich an
ihn gedacht. Immer und immer wieder habe ich mir gewünscht, ihn zu sehen... Und
jetzt steht er mir gegenüber. Einfach so. Und irgendwie sieht er völlig anders
aus und irgendwie ganz genauso, wie ich ihn in Erinnerung habe.
Wir stehen
vor der Bäckerei Neulinger und starren uns noch immer an. „Seit wann bist du
wieder da?“ Seine Stimme zittert. Gott ist das schön, ihn zu sehen. Er sieht
einfach umwerfend aus. Er lacht.
„Was ist?“,
frage ich unsicher.
„Ich habe
dich etwas gefragt“, sagt er noch immer lachend.
„Ach so,
ja, seit ein paar Wochen erst...“
„Und wo
wohnst du?“
„Da vorne.“
Ich zeige auf die nächste Querstraße.
„Da wohnst
du?“, fragt er sichtlich erstaunt. „In der Frundsbergstraße?“
Ich nicke.
„Nummer 23... Und du?“
„In der Lachnerstraße...“
„Das gibt’s
ja nicht“, sage ich lachend. „Ist ja unglaublich.“ Ich habe ganz vergessen, wie
groß er ist. Ich habe viel vergessen. Er schaut auf die Uhr. „Hast du es
eilig?“
„Nein, ein
bisschen Zeit hab ich noch.“ Ich höre in seiner Stimme, dass er eigentlich
keine hat.
„Ich will
dich nicht aufhalten.“
„Das tust
du nicht.“ Er stellt seine Tüten auf den Boden. „Ehrlich nicht... Mensch, ist
das schön, dich zu sehen. Richtig unwirklich.“
„Finde ich
auch“, sage ich mit schmachtenden Augen. Eine Weile schweigen wir uns an. „Ich
mache am Samstag in einer Wochen eine Einweihungsfeier auf meiner
Dachterrasse...“ Ich schaue zu ihm auf. Nein, eigentlich fresse ich ihn mit
meinem Blick. „Wenn du kommen magst, würde ich mich
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