Irgendwo dazwischen (komplett)
Abgesehen von einigen spitzen Kommentaren von Ella und Kim,
vergeht der restliche Tag ziemlich friedlich. Deren dumme Sprüche halten jedoch
gerade einmal einem Haltet doch einfach eure beschissenen
Klappen stand. Verwundert und mundtot gefallen mir Ella und Kim immer
noch am besten.
Marie
Ich starre aus dem Fenster. In Gedanken erlebe ich den gestrigen
Abend zum mindestens zehnten Mal. Die ganze Nacht lag ich wach. Immer und immer
wieder frage ich mich, warum es mich so kränkt. Ich denke, ich habe einfach
nicht damit gerechnet. Es war eben so wie immer. Sie hat sich nicht gezeigt.
Zumindest mir nicht. Ein Teil von ihr blieb immer im Verborgenen. Bis gestern.
Nun weiß ich, was ich immer vermutet habe, vielleicht schon die ganze Zeit
wusste und nicht sehen wollte. Die Fotos in ihrem Zimmer waren schon ein
Zeichen. Doch sie waren nicht der Grund. Manchmal denke ich, es ist besser die
Wahrheit nicht zu kennen. Das ermöglicht es einem, den Traum zu leben, die
Illusion zu wahren. Doch dann frage ich mich, ob ein Leben in einem
Paralleluniversum wirklich erstrebenswert ist, und dann wird mir klar, dass die
Wahrheit oft eine gute Sache ist.
Ich höre, wie meine Mutter die Wohnungstür aufsperrt. Lara ist
noch nicht zu Hause. Sie gibt zur Zeit Abendkurse für Schwangere.
„Marie?“ Erst antworte ich nicht. Ich frage mich, wie meine Mutter
Lara gefunden hat. Ich meine, ich weiß wo, aber wie wussten die beiden, dass
die jeweils andere lesbisch ist. „Schatz? Bist du da?“, ruft sie noch einmal.
„Ich bin hier.“ Meine Stimme klingt belegt. Ihre Schritte nähern
sich meinem Zimmer, und dann klopft sie sachte an.
„Kann ich reinkommen?“
„Sicher...“ Ein Lichtstrahl fällt in die Dunkelheit.
„Warum sitzt du hier im Dunkeln?“
Das ist mal wieder so eine Frage. So eine Frage, die nur Mütter
stellen können. Ja, weil ich eben im Dunkeln sitze. So halt. Weil ich will.
„Ich weiß nicht.“ Als sie das Licht einschalten will, sage ich nur leise,
„Bitte nicht...“
„Was ist denn los mit dir?“ Was soll ich sagen? Etwa, eine Frau
hat mich verlassen. Schon wieder. Und wieder bin ich allein. Und ich will doch
nichts anderes, als mich bei jemandem Zuhause fühlen. Ich will Geborgenheit.
Ich will mich geliebt fühlen. „Marie?“
„Es ist nichts“, lüge ich.
„Ist es eine Frau?“ Ich starre sie an. Die Dunkelheit mag meinen
Gesichtsausdruck verschlucken, doch meine Mutter scheint ihn zu spüren. Sie
lacht. „Dachtest du, ich weiß es nicht?“ Ja, eigentlich dachte ich das.
„Irgendwie schon“, antworte ich ziemlich erstaunt.
„Ach, Marie...“
„Was, ach Marie?“
„Es ist nicht einfach, anders zu sein...“
„Du hast leicht reden...“
„Wie meinst du das?“ Ihre Frage klingt überrascht.
„Du hast gleich den Glücksgriff gelandet, du hast gleich die
richtige Frau gefunden...“
„Ja, das meinst du...“
„Was soll das denn jetzt bitte heißen?“
„Marie, denkst du denn, ich wusste erst durch Lara, dass ich mich
zu Frauen hingezogen fühle?“
„Ja, an sich dachte ich das schon.“
„So stimmt das aber nicht.“ Lange schweigen wir beide. „Wenn dich
normales Licht stört, hast du dann auch etwas gegen eine Kerze?“, fragt sie
unvermittelt in die Stille.
„Nein...“ Sie steht auf und kramt in ihrer Tasche nach einem
Feuerzeug und zündet drei Kerzen an, die auf meinem Nachttisch stehen. Die hat
Mona dort hin gestellt. Als wir das letzte Mal miteinander geschlafen haben,
haben ihre Flammen unsere Körper sanft ausgeleuchtet. Natürlich wusste ich da
noch nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Meine Mutter sitzt mir wieder
gegenüber. „Also?“, frage ich ungeduldig.
„Ich wusste schon in deinem Alter, dass mich Frauen mehr erregen
als Männer...“
Ich bin sprachlos. Als ich mich wieder gefangen habe, frage ich
dann entsetzt, „Wie konntest du dann einen Mann heiraten?“
„Die Zeiten damals waren ein wenig anders, Schatz.“ Sie seufzt.
„Es ist heute noch schwierig, aber vor zwanzig Jahren... undenkbar...“ Nach
einer längeren Pause, sagt sie schließlich, „Es ist nicht, dass ich deinen
Vater nicht geliebt hätte...“
„Sondern?“ , falle ich ihr ins Wort.
„Ich habe ihn nur nicht begehrt.“
„Hast du während eurer Ehe mit anderen Frauen geschlafen?“ Sie
nickt. „Mit mehreren?“ Und wieder nickt sie. In ihrem Blick Schuldbewusstsein.
„Und Papa?“
„Ob er andere hatte?“ Diesmal nicke ich. „Ich glaube nicht... Aber
ich
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