Irgendwo dazwischen (komplett)
spüren. Und als ich das denke, finde ich es bedenklich.
Ich schiebe die Flasche angewidert von mir weg. Doch kurz später greife ich
dann doch wieder danach und trinke weiter. Ich frage mich, was meine Eltern tun
würden, wenn ich sterben würde. Ich frage mich, was sie tun würden, wenn ich
mich umbringe und in meinem Abschiedsbrief ihnen die Schuld gebe. Aber so
verzweifelt bin ich nicht. Dafür glaube ich viel zu sehr an die Liebe. Und ich
wäre außerdem zu feige. Ich hänge am Leben. Ich lebe gerne. Trotzdem würde mich
interessieren, was sie tun würden. Würden sie vielleicht endlich merken, dass
sie mich immer übersehen haben? Dass sie mich reduziert haben? Oder würden sie
die Schuld von sich weisen? Sie würden sie vermutlich mir geben...
Viele denken meine Familie sei perfekt. So ein Quatsch. Mein Vater
hatte eine Affäre. Nur Elias und ich wussten davon. Er hat sie in der Kanzlei
kennengelernt. Und nach und nach haben sie sich dann noch besser kennengelernt.
Und dann ist es eben passiert. Meine Mutter wollte es nicht sehen. Das hätte
ihre Fassade angekratzt. Und nichts darf die Fassade zum Bröckeln bringen. Es
war vor etwas über einem Jahr. Ich hatte vor, das Wochenende bei Stefan zu
verbringen. Meine Mutter war mit Leni beim Skifahren, Lia war mit ihrem
Exfreund in Italien und Elias bei Giselle. Mein Vater hatte einen Berg an
Arbeit angehäuft und konnte leider nicht mitfahren. Er war so traurig.
Er hat mir tatsächlich Leid getan. Meiner Mutter auch. Sie wollte das
Wochenende absagen, doch er bestand darauf, dass sie fahren. Ich fand das so
selbstlos.
Ich war also bei Stefan. Und wie das eben so ist, haben wir uns in
die Haare gekriegt. Nach einer Stunde übler Wortgefechte bin ich theatralisch
abgehauen. Als ich zu Hause ankomme, sehe ich Licht im Wohnzimmer. Es ist
schummrig, so wie Kerzenlicht. Und ich höre Musik. Es ist vom Stil her eine
schmalzige Kuschelrock-CD. Ich versuche, die Tür aufzusperren, doch von innen
steckt der Schlüssel. Ich frage mich, warum mein Vater den Schlüssel hat
stecken lassen, denn das tut er nie. Die Musik ist so laut, dass auch mein
Klopfen darin untergeht. Entnervt gehe ich in den Garten und tappe im Dunkeln
in Richtung Terrasse. Die Vorhänge sind zugezogen. aber ein kleiner Spalt ist
offen. Und ich schaue hindurch. Und dann sehe ich meinen Vater. Er sitzt auf
dem Sofa. Und auf ihm eine Frau. Sie ist nackt. Seine Hände an ihrem Arsch.
Sein Kopf zurückgelehnt. Kerzen flackern.
Ich drehe mich weg. Ich kann das nicht glauben. Eine Brünette
vögelt meinen Vater auf unserer Couch, und das bei Kuschelrock. Ich hätte nie
gedacht, dass mein Vater der Kuschelrock-Typ ist. Dann ist es plötzlich still.
Das Lied ist zu Ende. Und ich höre sie. Einen winzigen Augenblick später setzt
das nächste Lied an, und ich gehe.
Ich gehe zu Stefan. Ich erzähle ihm, was ich gerade gesehen habe.
Und am nächsten Tag erzähle ich es Elias. Und er redet mit unserem Vater. Er
sagt ihm, dass wir es wissen und es unserer Mutter sagen werden. Und mein Vater
wird uns bitten, nichts zu sagen. Er wird versprechen, die Sache zu beenden,
was er nicht tun wird. Und eines Tages wird meine Mutter unerwartet nach Hause
kommen. Und er wird sie nicht hören, weil er die Brünette unter der Dusche
vögelt. Sie wird sie dabei erwischen. Und es wird nie wieder darüber geredet.
Weil wir nun mal die perfekte Familie sind. Da werden Tränen und Gefühle
beiseite geschafft oder erstickt. Und dann wird weitergelächelt. Denn das ist
der Preis, den man zahlt.
Lili
Am Abend klingelt mein Handy. Es ist Elias. „Hallo, mein
Schatz...“
„Hallo, Kleines. Ist es okay, wenn ich komme?“, fragt er
erwartungsvoll.
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist... Meine Eltern kommen
doch morgen gegen Mittag…“
„Ich muss ja nicht übernachten... Ich will dich einfach sehen. Ich
könnte doch einfach auf nen Film vorbeikommen und danach verschwinde ich
wieder. Auf dem Weg zu dir ist ne Videothek, ich könnte uns was ausleihen...
Außer, du hast einen genauso guten Film da wie Notting Hill .“
Ich muss lachen. „Ja, komm her... und bitte beeil dich, dieser Tag
wollte und wollte nicht vergehen...“ Ich höre ihn lächeln. „Such uns doch
einfach einen schönen Film aus, ja? Nichts zu Blutrünstiges... es darf aber
ruhig spannend sein...“
„Weißt du was, Kleines, ich hol dich ab, und wir fahren zusammen.“
„Ist gut, lass einfach bei mir anklingeln, wenn du da bist, ich
komm dann
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