Irrfahrt
Überlegung. Als erstes zog er die Schnürsenkel aus den hohen Lederschuhen, um sie später mit einer Bewegung abstreifen zu können. Seinem dicken Wachmantel entnahm er eine Tafel Schokolade, die er dort als eiserne Ration verwahrte. Was hatten erfahrene Seeleute früher erzählt? Die Bewegung im Wasser und die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur erfordern große Mengen an Energie. Viele Schwimmer verlieren die Kräfte, weil sie stundenlang nichts gegessen haben ...
Wer überleben wollte, durfte jetzt keinen Fehler machen. «Nicht wild hineinspringen, Jungs! Seid vorsichtig, bleibt genügend weit vom Schiff ab!» Unaufhörlich gab Rauh seine wertvollen Ratschläge.
Gerber stieß mit dem Fuß an einen Metallbehälter. Es war eine leere Munitionskiste, luftdicht verschlossen. Er prüfte die Verschraubung: sie war fest zugedreht, «Die Kiste ist genau richtig für mich!»
Er meldete sich beim Kommandanten ab. Der gab ihm freundlich die Hand. «Ich bleibe hier», sagte Rauh. «Bin ein schlechter Schwimmer, und in meinem Alter komme ich sowieso nicht weit. Sie sind jung, Gerber, vielleicht schaffen Sie es. Viel Glück!»
Gerber erwiderte den Händedruck. Im stillen tat er dem alten Mann Abbitte. Wie bewundernswert er war in der Todesstunde seines Schiffes!
«Hat sich Herr Leutnant Adam schon abgemeldet, Herr Oberleutnant?»
«Nein, bisher nicht.»
In diesem Augenblick lief ein Zittern durch das Schiff. Gerber packte nun die Angst. Höchste Zeit, von Bord zu kommen! Den Mantel hatte er bereits abgelegt. Hastig streifte er die schwere Lederhose herunter, schleuderte die Schuhe weg. Ohne sich noch einmal umzublicken, ließ er sich mit seiner leeren Kiste über die Bordwand gleiten.
Auf dem Schlauchboot war unterdessen ein heftiger Streit entbrannt. Anscheinend hatten sie einen Mann, der Schwierigkeiten machte, über Bord geworfen. Im Wasser schrie er wie irrsinnig um Hilfe. Auch von den Flößen, die noch in der Nähe standen, waren laute Auseinandersetzungen zu hören.
Gerber wußte, daß es völlig aussichtslos war, auf einem der drei Rettungsfahrzeuge einen Platz zu erhalten. In dieser verzweifelten Lage galt die Kameradschaft nichts, jeder dachte nur an sich selbst. Er war einzig und allein auf seine Kiste angewiesen.
Der Behälter gab viel Auftrieb, und so kam er beim Schwimmen gut voran. Anfangs hielt er die Kiste zwischen die Beine geklemmt, später legte er sich mit dem Bauch darauf. Er war schon mehr als hundert Meter von der UnglückssteIle entfernt und hatte die gleiche Richtung eingeschlagen, in der das leere Schlauchboot abgetrieben war.
Als der Mond wieder durch die Wolken schimmerte, sah er undeutlich das Vorpostenboot mit der Boje auf dem hochragenden Achterdeck. Kurz hintereinander brachen mehrere Schotten. Schwer legte sich das Fahrzeug auf die Seite und versank mit seinem Kommandanten langsam in den Fluten.
Nur weißer, brodelnder Schaum blieb an der Oberfläche zurück.
Gerbers Uhr zeigte eine halbe Stunde nach Mitternacht. Um drei Uhr zwanzig begann die Morgendämmerung, also noch fast drei Stunden. Allmählich wurde die Kälte des Wassers unangenehm. Gerber fror. Er setzte sich ein Weilchen auf die Kiste, um auszuruhen, und hielt mit vorsichtigen Armbewegungen das Gleichgewicht. Als er dann ins Wasser glitt, spürte er kaum noch seine Füße. Erst nach langen, kräftigen Schwimmstößen kam das Gefühl wieder. Er war gewarnt. In der Dunkelheit, die ihn umgab, fühlte er sich sehr elend. Um so verzweifelter klammerte er sich an das Leben, an die Hoffnung, bei Tageslicht aufgefischt zu werden.
Immer wieder hörte er Schreie, Rufen, Gebrüll. Er konnte nicht sagen, wie weit all diese Stimmen von ihm entfernt waren; auf dem Wasser verschätzte man sich leicht. Offenbar war eines der Flöße gekentert, und zwischen den Schwimmern wurde ein erbitterter Kampf um die Plätze ausgetragen.
Qualvoll langsam verstrich die Zeit, bis der Morgen dämmerte. Gerber reckte sich auf seiner Kiste hoch und hielt Umschau. Keine zwanzig Meter vor ihm schwamm ein länglicher Gegenstand. Es war das leere Schlauchboot. Durchgefroren und erschöpft hatte er kaum noch die Kraft, sich hineinzuschwingen. Mit letzter Anstrengung gelang es.
Bald darauf kam das andere Schlauchboot näher gerudert. Dort hatten sie seine Bewegungen bemerkt und für einen Hilferuf gehalten. Einer der Männer gab ihm einen trockenen Mantel, in den er sich einhüllen konnte. Gerber bedankte sich. Der Mantel war eine große Wohltat. Er
Weitere Kostenlose Bücher