Irrfahrt
gelassen! Ich bin schuld. Warum habe ich ihn nicht gesucht?
Er fühlte sich hundeelend. Es waren nicht allein der überstandene Schrecken, die körperliche Erschöpfung. Es war das Bewußtsein, versagt zu haben. Immer wieder zergrübelte er sich den Kopf über den Sonderauftrag. Jahrelang hatte man Zeit gehabt, die Markierung anzubringen, plötzlich mußte es über Nacht geschehen. Der Befehl duldet keinen Aufschub! Ohne Sicherung war Rauhs Boot hinausgefahren. Sechsundvierzig Seeleute verheizt, wen interessierte das schon? An der Ostfront fielen sie zu Zehntausenden. Fünfzehn Männer durften froh sein, daß sie noch lebten; zwei waren inzwischen an Lungenentzündung im Lazarett gestorben.
Das Quartier leerte sich nach und nach. Spezialisten wurden abkommandiert: Ein Sperrmechaniker konnte auf einem Minensucher einsteigen, die Vorpostenflottille suchte einen gelernten Koch, die Schleusenflak einen Geschützführer.
Gerber bummelte durch die Stadt, traf Kameraden anderer Besatzungen. Wilde Gerüchte schwirrten durch die Gegend von einem General Unruh. Wenn man den Erzählungen glauben durfte, machte dieser General seinem Namen alle Ehre. Viele nannten ihn auch «Heldenklau». Urplötzlich tauchte er irgendwo auf und kontrollierte Einheiten aller Wehrmachtsteile. Mit sicherem Blick fand er heraus, wo zu viele Leute saßen. Er kämmte Verwaltungen durch, löste Stäbe ohne unterstellte Einheiten auf und dezimierte bestehende Einheiten auf Grund seiner weitreichenden Vollmachten.
Neuerdings gehörten Flieger, deren Maschinen nicht mehr flugtauglich waren, und Seeleute ohne Schiffsplanken unter den Füßen zu seinen erklärten Lieblingen. Aus den zusammengeramschten Mannschaften bildete er sogenannte Volksgrenadierdivisionen, die ohne besondere Ausbildung und mit kümmerlicher Bewaffnung an die Brennpunkte der Invasionsfront geworfen wurden.
Gerber war sehr beunruhigt. Immerhin saß er auf dem Trockenen und würde der erste sein, den der General holte. Vorsichtig erkundigte er sich auf der Schreibstube der Flottille. Der Oberleutnant hatte schon Befehl erhalten, geeignete Kräfte herauszusuchen. Er blätterte in Gerbers Akten und meinte dann treuherzig: «Sie haben doch bei der Invasion drei Tage Infanteriedienst gemacht und eine Kompanie geführt. Als Kompanieführer können Sie sofort eingesetzt werden. Auch Ihre Beförderung ist auf diese Weise leicht zu regeln. Passen Sie auf, Oberfähnrich Gerber, in acht Tagen sind Sie Leutnant bei den Volksgrenadierenl»
Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte Gerber. Leutnant ja, aber nicht bei diesen Todeskandidaten.
Seine Stimmung fiel auf den Nullpunkt. Traurig saß er in einem Restaurant und schlürfte ein Gläschen Rotwein. Da klopfte ihm jemand auf die Schulter: Oberfähnrich Winter, den er von Mürwik her kannte. Winter hatte mit Koppelmann in einer Stube gelegen, ohne sich von dessen U-Boot-Fanatismus anstecken zu lassen. Jetzt fuhr er bei einer aktiven Minensuchflottille.
Erinnerungen wurden wach; Gerber spendierte eine Flasche guten Wein, ihm war nun alles egal. Er berichtete, wie es ihm in den letzten Tagen ergangen war.
Oberfähnrich Winter überlegte nicht lange, schließlich war Gerber von der gleichen Crew. «Menschenskind, Sie kommen einfach zu uns! Auf Boot Sieben ist ein zweiter WO abkommandiert worden, irgendeine dunkle Geschichte. Der Alte ist verträglich, Reserveoffizier.»
Gerber bekundete lebhafte Zustimmung. Aber wie könnte er zu der Nachbarflottille übersiedeln?
«Überhaupt kein Problem», sagte Winter. «Wir haben einen sehr tüchtigen Verwaltungsoffizier. Den laden wir zu einem guten Essen in sein Stammlokal ein. Ich wahrschaue ihn vorher, und wenn er einverstanden ist, sind Sie in kürzester Zeit bei unserem Haufen.»
Aufgeregt wartete Gerber am nächsten Abend in einer versteckten Wirtschaft, die ihm Winter gezeigt hatte. Nach einigen Minuten wurde die Tür aufgerissen, und herein trat ein ungeheuer dicker Mann mit zwei Goldstreifen und einem Merkurstab am Ärmel: der Oberleutnant (V) Kloss.
Aus begreiflichen Gründen legte Kloss Wert darauf, daß sein Familienname mit einem kurzen o ausgesprochen wurde. Er hatte einen kugelrunden Kopf mit Vollglatze, gut entwickelte Hängebacken und ein beachtliches Doppelkinn. Zwei listige Äuglein musterten den fremden Oberfähnrich. Gerber machte eine korrekte Verbeugung, und Winter stellte ihn dem Herrn Oberleutnant vor, genau nach den komplizierten Spielregeln, die sie in Mürwik durchgekaut
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