Irrfahrt
kühle Flüssigkeit.
Abends bekam er den ersten Besuch: ein Obergefreiter aus dem Heizerdeck. Er lag im Nebenraum. Ein Splitter hatte ihm den Unterarm durchschlagen, ohne die Knochen zu verletzen. Er sollte im Bett bleiben, aber manchmal, wenn die Schwester nicht da war, stand er auf und ging ein bißchen umher.
Aus seinen Erzählungen gewann Gerber allmählich ein Bild, was mit ihm geschehen war. Noch auf der Brücke hatten sie sein Bein notdürftig verbunden, aber es gelang nicht, die starke Blutung zu stillen. Zechmeister ordnete den sofortigen Transport in ein Lazarett an. Bewußtlos hatten sie ihn in einem Schlauchboot an Land gebracht.
«Und wo sind wir hier?» fragte er den Obergefreiten.
«ln Saint-Servan.»
Gerber hatte diesen Ort manchmal durch ein Fernglas betrachtet. Vor dem Kriege war St-Servan ein Kloster, im Reiseführer als Sehenswürdigkeit verzeichnet. Schon immer wollte er einmal dorthin fahren, war aber nie dazu gekommen. Nun lag er hier als Patient.
Am nächsten Vormittag wurde Arztvisite angekündigt. Sanitäter und Schwestern trafen die üblichen Vorbereitungen; ein fahrbarer Tisch mit Verbandzeug und Instrumenten wurde hereingerollt. Dann erschien ein kleiner, ältlicher Herr mit klugen Augen hinter einer goldgefaßten Brille. Mit schnellen, kurzen Schritten ging er von Bett zu Bett. Dr. Ferre hatte Tag und Nacht im Operationssaal gearbeitet. Die abgefertigten Patienten wurden wahllos nach verfügbaren Betten auf die Stationen verteilt. Nun suchte er in allen Sälen seine Schützlinge wieder zusammen.
Um künftig die Suche zu erleichtern, malte ein dienstbeflissener Sanitäter ein großes F an die Wand über den Betten, in denen Patienten von Dr. Ferre lagen. Auch Gerber erhielt ein solches F.
Behutsam entfernte Schwester Jeannine den blutverkrusteten Verband von Gerbers Bein. Sie gab sich Mühe, schonend zu verfahren. Trotzdem mußte er die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien. Dr. Ferre begann, mit sterilen Tupfern den blutverschmierten Unterschenkel zu säubern. Über die Gläser seiner Brille hinweg musterte er die Wunde. «Tres bien», sagte er. Schwester Jeannine reichte ihm ein Stück Verbandmull. «Propre?» fragte der Arzt, ehe er das Gewebe auf die Wade legte. Jeannine wickelte eine Mullbinde darüber und lächelte Gerber zu.
Hinter ihr stand ein Sanitäter mit schwarzem Schnurrbart und groben Händen. Die Abzeichen am Ärmel wiesen ihn als Stabsgefreiten aus. Gerber schrie, als der Sani sein Bein anpackte und eine Papierbinde herumzuwickeln begann. «Reiß di a weng zsammen», sagte der Stabsgefreite.
Gerbers Zustand besserte sich allmählich. Die Verpflegung war nicht gerade üppig, aber gehaltvoll. Schwester Jeannine brachte einen Rollstuhl, und mit seinem fest umwickelten Bein konnte er im Saal und auf dem Flur umherrollen.
Häufig, besonders nachts, litt er unter starken Schmerzen. Die Wunde heilte nur langsam. Einige kleine Splitter staken noch im Muskelfleisch; sie würden mit der Zeit herauseitern.
Immer mehr Verwundete strömten in das Lazarett von St-Servan. Die Krankensäle waren überfüllt, viele Schwerverwundete mußten auf ihren Tragen liegenbleiben.
Mit den Verwundeten kamen Nachrichten von draußen. Eilig zusammengezogene deutsche Truppenverbände hatten versucht, die bei Avranches durchgebrochenen Amerikaner abzuschneiden. Der Versuch war gescheitert. Fächerförmig breiteten sich die alliierten Armeen über Nordfrankreich aus.
Ihre Panzerspitzen standen bereits an der Loire.
Schritt für Schritt kämpften sich die Amerikaner an Saint-Malo heran. Sie ließen sich Zeit. Geringe eigene Verluste waren ihnen offenbar wichtiger als ein schneller Vormarsch. Wo sich größere deutsche Verbände sammelten, funkten sie mit Artillerie oder Bomberpulks dazwischen.
Ein Regiment Fallschirmjäger, das am Stadtrand lag, leistete erbitterten Widerstand. Die Fallschirmjäger besaßen keine schweren Waffen. Sie nutzten Steinwälle und Hecken als Deckung und setzten der amerikanischen Infanterie hart zu.
Die Reede lag noch immer unter schwerem Beschuß. Eine Kampffähre und der alte Dreimaster, dieses herrliche Stück, waren versenkt worden. Die «Hüxter» lag ebenfalls auf dem Grund des Meeres. Weithin als Lazarettschif f kenntlich, war sie in großem Abstand von den Kriegsfahrzeugen auf der
Reede vor Anker gegangen. Eine Thunderbolt hatte eine mittlere Bombe auf das unbewaffnete Schif f gesetzt. Zum Glück befanden sich keine Patienten an Bord. Die
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