Irrfahrt
andersherum!»
Gerber kannte dieses Gewäsch, es ekelte ihn an. «Ein ungemein trostreicher Gedanke», sagte er ironisch.
Heyde beugte sich tief über das Bett und flüsterte: «Eigentlich darf ich über die Sache nicht sprechen, aber wenn Sie derartig verbohrt sind ... Wir bleiben nicht auf der Insel. Große Sache wird vorbereitet. Ganze Flottille und noch ein paar schnelle Fahrzeuge in einem Zug bis nach W'haven! Mensch, Gerber, Weihnachten wieder in der Heimat! Urlaub und hübsche Mädchen, deutsche Mädchen ... Im Vertrauen: Der Chef soll nach Kiel fliegen, Einzelheiten klären. Schätze, ein paar Orden sind dann fällig ... Na, immer noch keinen Appetit?»
Gerber verstand. Hein war im Begriff, seine letzten Schiffe bei einem sinnlosen Unternehmen zu verheizen.
Durchbruch nach Wilhelmshaven - das bedeutete Hunderte von Kilometern durch den Ärmelkanal, in dem es von alliierten Einheiten nur so wimmelte.
Ohne mich, dachte er. Beförderung und Orden lockten ihn nicht, das war vorbei. Heyde konnte ihm nichts mehr befehlen, der schon gar nicht. Unter dem Druck der Ereignisse hatte Gerber sich auf die Gefangenschaf eingestellt. Kein angenehmer Gedanke, aber immer noch besser, als kurz vor Toresschluß abzusaufen - wie Adam, Rauh und all die anderen. Damals, im Oktober 1918, hatten die Matrosen die Feuer aus den Kesseln gerissen. Jetzt war die Situation ähnlich, jedenfalls hier in Malo. Das Ende eines verlorenen Krieges zeichnete sich ab.
«Also was ist nun?» drängte Heyde. «Kommen Sie mit?»
«Nein», antwortete Gerber fest.
Heyde erhob sich und grif f nach seiner Mütze. «Sie sind ja verrückt!»
«Im Gegenteil», sagte Gerber.
Wütend machte der Leutnant kehrt und verließ den Saal. Gerber hörte ihn auf dem Flur herumbrüllen. «Zieh bloß Leine, du widerliche Ratte», murmelte er.
Zum erstenmal seit langer Zeit war er mit sich zufrieden.
Ein neuer Tag brach an. Vorsichtig rollte Gerber mit seinem Stuhl zum Fenster. Die Reede war leer gefegt, alle Boote waren zu den KanaIinseln ausgelaufen. Einsam lag ein torpedierter Dampfer auf den Klippen. Sein zerfetzter Bug hatte schon erheblich Rost angesetzt. An verschiedenen Stellen ragten die Mastspitzen der gesunkenen Schiffe aus dem Wasser. Keine Ankerkette rasselte, kein Bug durchpflügte die Wellen. Eine gespenstische Stille breitete sich über der weiten Wasserfläche aus. Nach dem Trubel der letzten Wochen wirkte das unnatürlich, geradezu beklemmend.
Die Front rückte immer näher. In den Krankensälen waren die Abschüsse der Infanteriewaffen schon deutlich zu hören. Verirrte Granatwerfersalven trafen das Dach des Lazaretts. Eine Krankenschwester ließ vor Schreck die Waschschüssel fallen.
Sobald das Feuer stärker wurde, lauschten die Verwundeten ängstlich nach den Einschlägen und versuchten, die Richtung festzustellen. Es war kein Zweifel möglich: Die Front rollte am Lazarett vorbei. Es kamen auch keine Verwundeten mehr.
Am späten Nachmittag erschien ein schlaksiger Amerikaner im Hof des Lazaretts. Erwartungsvoll wurde er von einer großen Schar Menschen umringt. Sanitäter und Ärzte, Hilfskrankenschwestern und Zahlmeister starrten ihn an. Schließlich kam der Chefarzt, und mitten im Hof begann in Gegenwart vieler Zuschauer das Palaver.
«Sie sind jetzt in Gefangenschaft», sagte der Amerikaner. «Machen Sie ruhig weiter, wir haben im Augenblick andere Sorgen. Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie Bescheid.»
Der Chefarzt fragte nach Verbandstoff, der knapp geworden war. Eine Stunde später rollte ein Kraftwagen auf den Hof, vollgepackt mit Mullbinden und Watte. Über Sprechfunk hatte der Amerikaner von seiner Einheit Beutematerial angefordert und prompt bekommen.
Dann ließ er sich die Krankensäle zeigen. Ganz ungeniert und ohne bewaffnete Begleitung wanderte er durch sämtliche Stationen. Erstaunt musterten die bettlägerigen Kranken den Mann in seiner schlichten Uniform. Kaum einer wußte, daß er Oberstabsarzt war, also im Range eines Majors stand. Die deutschen Soldaten waren gewohnt, solche Leute an ihrem schweren Lametta auf den Schultern zu erkennen.
Tags darauf tauchten dreihundert viermotorige Bomber vom Typ Flying Fortress am Himmel auf. Als der Pfadfinder die Christbäume setzte, war für das alte Seeräubernest die letzte Stunde gekommen. Der Bombenteppich ließ keinen Stein auf dem andern.
Am Morgen des 17. August 1944 kapitulierte die Festung. Sie hätte auch ohne diesen Vernichtungsangrif auf die Stadt
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