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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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um der Westfront Entlastung zu bringen.
    In diesem Fall waren sich die Leitartikler nicht einig. «Der Brief an Stalin ist ein Zeichen für den Ernst unserer Lage», meinten die einen. «Angriff der Deutschen gestoppt, kein weiterer Geländeverlust, Maaslinie gehalten - das ist entscheidend», meinten die anderen.
    Zwiespältig waren auch die Empfindungen der Zuhörer. «Verheimlichen Sie uns etwa einen Teil der Meldungen?» fragte Dr. Peter und sah Gerber drohend an. Die Zeitungen sprachen nicht mehr vom Ardennes-Salient, sondern nur vom Ardennes-Bulge. «Ein Frontbogen in den Ardennen, kein tiefer Einbruch.» Das Wörterbuch wurde herbeigeholt, ehe die «Eisernen» Gerbers Übersetzung akzeptierten. Rundstedts Armee hatte ihre Panzerspitzen zurücknehmen müssen, die Gefahr für die Alliierten war gebannt. Das Wetter besserte sich, und die Luftüberlegenheit der Briten und Amerikaner im Ardennenraum begann sich auszuwirken. Bastogne wurde entsetzt. Die letzte Offensive der Wehrmacht an der Westfront war gescheitert, die Wende ausgeblieben.
    Schweigend gingen die «Eisernen» auseinander.
     
    «Zweimal täglich Gehübungen mit Krückstock!» lautete die Anweisung von Dr. Turgel. Gerber mußte wie ein Kind wieder laufen lernen. Mit Anstrengung kam er bis in die Küche oder in den AufenthaItsraum der Wachposten. Unaufgefordert half er beim Geschirrtrocknen, beim Streichen der Brote, vor allem beim Abschneiden der Fleischportionen, eine Aufgabe, die in englischen Familien dem Mann zukommt.
    Bald lernte er seine Posten und Pfleger genauer kennen, wurde Zeuge von politischen Auseinandersetzungen in der Pantry. Jeder verteidigte mit scharfsinnigen Argumenten seinen Standpunkt. Die meisten englischen Soldaten hatten keine gute Meinung von Churchill. Er zeigte sich gern in einer prunkvollen Phantasieuniform als Lordprotektor und Admiral in der Öffentlichkeit, ähnlich wie Hermann Göring in Deutschland. Seine diplomatischen Winkelzüge und seine antikommunistische Einstellung gaben oftmals Anlaß zu erregten Debatten. Trotzdem entstand dabei kein ernsthafter Streit, der etwa in private Feindschaf t ausartete. Ob wir Deutschen es auch einmal lernen werden, politisch Andersdenkende zu respektieren, fragte sich Gerber und mußte an das traurige Schicksal seines Lehrers Dr. Vetter denken.
    Fleißigster und anstelligster Helfer in der Küche war unbestritten der Junge aus Neuss. Mit seinen paar Brocken Englisch machte er auch den Briten klar, was er von Dr. Peter und dessen Klüngel hielt. Gerber bedauerte, daß sich der Ausdruck «Endsiegakrobaten» nicht übersetzen ließ.
    Einer der Posten wurde Jordy genannt. Das war der landesübliche Spitzname für Leute, die aus Newcastle stammten. Dort wurden Schiffe gebaut. Jordy hatte vor dem Kriege auf einer Werf t gearbeitet. Er war Kommunist. «Alle Jordies sind Kommunisten», versicherte er stolz. Newcastle schickte seit Jahrzehnten einen kommunistischen Abgeordneten ins Unterhaus.
    Gemütlich saßen Jordy und Gerber in der Küche und schwatzten. Jordy war fünfunddreißig Jahre und hatte schon viel erlebt: die Weltwirtschaftskrise mit Lohnkämpfen, Streiks, Aussperrung und Arbeitslosigkeit. Freimütig erzählte er von seiner Rekrutenzeit in Wales, von den Luftangriffen und der Invasionsgefahr in Malta 1940. Zwei Jahre später wurde er in Nordafrika schwer verwundet. Nach seiner Ausheilung kam er als Wachposten nach Wakefield.
    Jäh wurde das Gespräch unterbrochen. Draußen rauschte ein Offizier mit buntem Käppi, olivgrünem battle-dress und grünkariertem Schottenrock vorbei. «Kontrolle», rief Jordy und verholte sich schleunigst auf den Flur, wo er eigentlich zu stehen hatte.
    Als der hohe Vorgesetzte zurückkam, machte Jordy einen Stampfschritt, der eine ausgewachsene Schildkröte zermalmt hätte, richtete den Lauf seiner Maschinenpistole genau auf die rechte Stiefelspitze und blickte mit vorgestrecktem Kinn starr geradeaus.
    Der Offizier stellte einige Fragen, die Jordy laut und knapp beantwortete. «Ihr Platz ist auf dem Flur und nicht in der Pantry, merken Sie sich das!»
    «Yes, Sir!» brüllte Jordy.
    Gerber war maßlos erstaunt, daß weiter nichts erfolgte. «Bei uns hätte es mindestens drei Tage Bau gegeben ... »
    Lächelnd tippte Jordy auf das kleine Bändchen an seiner Uniformbluse. «Wir waren bei der achten Armee, der Oberleutnant und ich.»
    Natürlich hatte Gerber von der 8. britischen Armee nicht die geringste Vorstellung. Jordy klärte ihn auf. «Diese

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