Irrfahrt
Armee hat unter der Führung Montgomerys von EI Alamein bis Tunis, dann über Sizilien, Neapel und Rom bis nach Mittelitalien mehr als zweitausend Kilometer Vormarsch kämpfend zurückgelegt. Wer das Bändchen der Achten trägt, ist Frontsoldat und darf hier schon mal was ausfressen. Das dürfen höchstens noch die Highlanders, eine schottische Eliteeinheit mit einem besonderen roten Abzeichen an der Mütze.»
Im Laufe der nächsten Wochen erfuhr Gerber eine Menge über die britische Armee. Bruchstücke zunächst, vieles schwer zu begreifen. Allmählich rundete sich aus den Erzählungen Jordys und seiner Kameraden, aus Zeitungsberichten und eigenen Beobachtungen das Bild: Drill, Schikanen, scharfe Disziplin, andere Dienstvorschriften und andere Bewaffnung - eben doch Barras.
Dennoch gab es wesentliche Unterschiede. Der Abstand zwischen Unteroffizier und Mannschaf t war bei weitem nicht so groß wie in der Wehrmacht; sie aßen und wohnten gemeinsam. Niemand, nicht einmal ein blutjunger Rekrut, brauchte einen Sergeanten auf der Straße oder auf dem Kasernenhof stramm zu grüßen. Ein Feldwebel war hier noch lange kein Halbgott.
Anders verhielt es sich mit dem Abstand zwischen Offizieren und den unteren Diensträngen. Auch innerhalb des Offizierskorps gab es erhebliche soziale Abstufungen. Wer einflußreiche Verwandte in hohen Stellungen hatte, aus einer adligen Familie stammte oder gar weitläufig mit dem Königshaus verwandt war, konnte in Army, Navy oder Air Force schnell Karierre machen. Das Gros der Berufssoldaten mußte sich nach jahrzehntelangem Dienst in den Kolonien mühsam hocharbeiten. Der Kommandeur des Lazaretts gehörte zu diesen rauhen, im Pulverdampf ergrauten Kriegern. «Blimp» war nicht etwa sein Name, sondern eine Gattungsbezeichnung.
Offiziere erhielten in Großbritannien wesentlich höhere Zuteilungen an Lebensmitteln als die unteren Dienstgrade. Derartige Bevorzugungen bestanden ganz offiziell; sie waren in einschlägigen Vorschriften nachzulesen. Jordy brachte alles auf eine Formel: «Die Ofziere gehören einer anderen Klasse an als die Masse der Soldaten.» Ja, das stimmte sicherlich. Gerber hätte, wenn überhaupt, von Gesellschaftsschicht gesprochen, aber Jordy blieb immer bei seinem Wort «class». Davon war er nicht abzubringen.
Montgomerys Truppen stürmten durch die norddeutsche Tiefebene, nachdem ihnen bei Wesel das zügige Überqueren des Rheins gelungen war. Gleichzeitig hatte Pattons Armee den Oberrhein überschritten und drang tief nach Süddeutschland ein. Marschall Shukow stand an Oder und Neiße, seine Truppen hielten bei Küstrin zwei heiß umkämpfte Brückenköpfe.
Die «Eisernen» scharten sich noch fester um Dr. Peter und glaubten trotz aller Niederlagen unerschütterlich an den Endsieg. Diese Gläubigkeit war ihrer Überzeugung nach die einzig mögliche Einstellung des deutschen Herrenmenschen zur Gegenwart. Je weiter es rückwärts ging, desto geringer wurde ihr Interesse für die Kriegslage. «Zeitunglesen verleitet nur zum Defätismus!» Am liebsten hätten sie die Weitergabe der britischen Blätter an Patienten und Pfleger ganz unterbunden.
Gerber und einige andere erhielten eine lautstarke Verwarnung vom Obersturmführer. «Jede Unterhaltung mit dem britischen Personal ist auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Das gilt auch für dich, Kleiner!» sagte er zu dem Jungen aus Neuss.
Natürlich wußte der Obersturmführer nichts von der politischen Einstellung des britischen Personals. Seine Englischkenntnisse waren dürftig, und private Gespräche mit Briten hielt er für unter seiner Würde. Jordys Zugehörigkeit zur KP Großbritanniens war ihm nicht bekannt, sonst wäre die Rüge an Gerber wesentlich schärfer ausgefallen.
Handwerk hat goldenen Boden. Diesen Spruch fand Gerber im Lazarett immer wieder bestätigt. Uhrmacher ölten und reinigten die verschiedensten Taschen- und Armbanduhren bei Freund und Feind. Das Honorar kassierten sie in Zigaretten. Schneider erledigten zu mäßigen Preisen - ebenfalls in Stäbchen - kleine Ausbesserungsarbeiten für die britischen Sanitäter und Posten. Von den Gefangenen erhielten nur die Sanitäter offiziell eine Zuteilung an Rauchwaren, vierzig Zigaretten pro Woche. Den Helfern in der Küche wurde gelegentlich eine Packung zugesteckt. Immerhin, der Schornstein rauchte, und das war die Hauptsache.
Reichlich zu tun hatten die Frisöre. Haare wachsen in der Gefangenschaf t nicht langsamer als anderswo. Manchem
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