Irrfahrt
Frisör war es gelungen, seine Utensilien zu retten, und so konnte er gegen Bezahlung - zwei Zigaretten für den Haarschnitt - seine Kameraden bedienen wie in alter Zeit. Die britischen Kunden bezahlten sogar mit einer Zehnerpackung, was immer noch billiger war als bei einem Frisör in der Stadt.
Gerber begab sich humpelnd zum Arbeitsplatz eines Obermeisters aus der Lausitz mit Namen Stosch. Er mußte eine Weile warten und kramte unterdessen eine Illustrierte hervor, die ihm Sister Murphy empfohlen hatte. «What shall we do with Germany now?» lautete die Überschrif t eines zweiseitigen Artikels in der Picture Post. Der Autor war offenbar über Grundsatzentscheidungen informiert, die Stalin, Roosevelt und Churchill vor einigen Wochen in Jalta getroffen hatten.
Deutschland nach dem verlorenen Krieg! Vorsichtig blickte sich Gerber um, ob von den «Eisernen» auch niemand in der Nähe war. Die bunte Karte der Illustrierten zeigte, welche Pläne die Sieger verfolgten. Die deutsche Regierung und andere staatliche Organe waren aufzulösen, die alliierten Militärs übernahmen die Macht. Ganz Deutschland sollte besetzt werden: der Süden von den Amerikanern, der Westen und Norden von den Briten und der Osten von den Sowjets. Main und Elbe markierten die ungefähren, zunächst grob festgelegten Grenzen zwischen den Besatzungszonen. Ob die Franzosen an der Okkupation beteiligt waren, stand bei Redaktionsschluß noch nicht fest. Aber auch ohne die Franzosen war es schon schlimm genug. Gerber hatte sich den Ausgang des Krieges so ähnlich wie 1918 vorgestellt: Gebietsverluste, drückende Reparationsleistungen, schwere Jahre des Wiederaufbaus. Damals war nur das Rheinland besetzt worden, und jetzt? Das Herz krampfte sich ihm zusammen. Seine Heimatstadt lag in der sowjetischen Besatzungszone. Dort würden die Russen einmarschieren und ein kommunistisches Regime errichten. Was müssen meine Eltern durchmachen, die Freunde und Bekannten, wenn alles zusammenbricht, dachte er hilflos.
Endlich kam er an die Reihe. Obermeister Stosch begann mit Schere und Kamm das Gewirr der Haare zu lichten. Neugierig schaute er zwischendurch in Gerbers Zeitschrif t und ließ sich die bunte Karte erklären. «Und wo liegt Finsterwalde?»
Gerber tippte auf einen Punkt in der Niederlausitz, wo er die sangesfreudige Stadt vermutete.
«Bestimmt?»
«Ja, ganz bestimmt. Hier etwa ... »
«Bei den Russen? Die nehmen einem doch alles weg - mein Häuschen, mein Geschäft», jammerte der Obermeister. Die Russen in Finsterwalde? Das konnte unmöglich stimmen. Erst gestern war Dr. Peter bei ihm gewesen, zum Haareschneiden, hatte von der großen Wende gesprochen und von Geheimwaffen, die in Kürze eingesetzt werden sollten. «Ganz London mit einem Schuß vom Teppich pusten, dann geht's wieder andersherum, mein lieber Stosch! Und die Russen treiben wir bis hinter die Weichsel!» Ja, so ungefähr hatte er gesagt.
Auch andere Kunden des Frisörs wurden aufmerksam, suchten auf der Karte ihren Heimatort. Amerikanische Zone, britische Zone diese Feststellungen wurden ohne Aufregung hingenommen. Vor den Russen hatten sie Angst, besonders Offiziere und Landser, die an der Ostfront gekämpf t hatten. Und alle Nazis.
Gerber war es gar nicht recht, daß der Artikel so reges Interesse fand. Gerüchte über die Zukunf t schwirrten täglich durch die Station, sehr zum Kummer der «Eisernen». Wenn sie erfuhren, was er da erzählt hatte ...
Mit einer gewaltigen Zangenbewegung marschierte die Rote Armee auf Berlin. Im Westen drangen britische und amerikanische Truppen fast ungehindert vorwärts. Nun begriffen die meisten Gefangenen, daß die Niederlage unmittelbar bevorstand. Aber sie wagten es nicht, laut darüber zu sprechen, schon gar nicht in Gegenwart von Dr. Peter und seinen Kumpanen.
Ob die «Eisernen» wirklich noch an eine Wende glaubten, schien fragwürdig. Nach außenhin taten sie allerdings so, gaben sich markig und behaupteten, der Führer würde schon einen genialen Dreh finden. Durchhalten hieß ihre Parole, solange noch irgendwo geschossen wurde.
Einige Offiziere waren vorsichtiger. Für sie stellte der zweite Weltkrieg nur die zweite Runde des Ringens um die Vorherrschaf t in Europa dar. Wenn Deutschland auch diese Runde verlor, mußte nach einer längeren Verschnaufpause eben die dritte Runde beginnen, diesmal mit den richtigen Verbündeten.
Ein Sanitäter hatte gesprächsweise Hitler als «militärische Null» bezeichnet. Denunzianten gaben
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