Irrfahrt
technischen Rückstand war die Rede, von der Zersplitterung der Betriebe, von ungenügenden Sicherungsmaßnahmen. Das National Coal Board war dabei, einschneidende Veränderungen zu schaffen. Benachbarte Betriebe wurden vereinigt, die Schächte unterirdisch miteinander verbunden, damit bei Unglücksfällen mehr Fluchtwege offenstanden. Die technischen Einrichtungen sollten modernisiert, große Abbaumaschinen angeschafft, die Bewegung und Sortierung der Kohle mechanisiert werden. Viele hundert Millionen Pfund waren erforderlich, um diese Aufgaben zu lösen.
Auch soziale Maßnahmen kamen zur Sprache: Unfallschutz und Versicherung, bessere sanitäre Verhältnisse und medizinische Betreuung. Das war aber noch nicht alles. Mr. Horner wurde zitiert. Die Gewerkschaft drängte darauf, die Fünftagewoche einzuführen. Noch zögerte die Regierung. Werden die Förderleistungen bei einer solchen Verkürzung der Arbeitszeit nicht erheblich absinken? Das werden sie nicht, versicherte die Gewerkschaftsleitung. An den verbleibenden fünf Tagen wird entsprechend mehr geleistet, der zusätzliche freie Tag wird sich günstig auf die Leistungsfähigkeit der Arbeiter auswirken, die Zahl der Fehlschichten wird abnehmen, die Kohleproduktion eher steigen als sinken.
Harald hatte schon mit Bergleuten aus der Umgegend gesprochen. Sie vertraten die Ansicht, daß sich im britischen Bergbau vieles ändern müßte. Die Unternehmer wollten ja nur Geld machen, die Arbeitsbedingungen wären ihnen gleichgültig. Jetzt würde endlich in den Betrieben etwas geschehen.
Stolz erteilte Harald Kreutzmann dem ahnungslosen Bürgersohn Gerber eine Lektion über den ökonomischen Kampf der organisierten Arbeiterklasse.
Die Labour-Regierung startete den großen Export-drive. Viele Waren, die es bis dahin frei im Lande zu kaufen gab, wurden jetzt zu Überpreisen angeboten oder verschwanden ganz aus dem Angebot. Auch im Lager war die Knappheit an Verbrauchsgütern deutlich zu spüren. Die Regale der Kantine leerten sich zusehends.
Die Arbeitskommandos brachten aber weiterhin große Mengen Geld ins Lager. Bald entwickelte sich ein Geldüberhang, der alle Preise in die Höhe trieb. Das Kartell hatte rechtzeitig Waren aufgekauft und verdiente Riesensummen.
Der Zahlmeister Homewood erhielt den Auftrag, eine Währungsreform im Lager durchzuführen. Alle Geldscheine sollten eingezogen und - bis zu einem Höchstbetrag von zwanzig Shilling - durch einen Sonderstempel wieder zahlungsfähig gemacht werden. Der Rest kam auf ein Sperrkonto und war zunächst blockiert.
Bei den Geschäftsleuten, die dreißig Pfund und mehr in den Händen hatten, herrschte große Aufregung. Ihre Furcht erwies sich als unbegründet. Der Luxemburger hatte bereits vorgesorgt: «Sein» Mann saß im Vorzimmer des Paymasters. Am Tage der Währungsreform mußten alle ihre Scheinchen abliefern. Die Großen hingegen behielten ihre «wertlos» gewordenen Papiere. Tags darauf drückte ihnen der richtige Mann den richtigen Stempel auf die falschen Scheine. Der Luxemburger beanspruchte für das Umrubeln eine erhebliche Gebühr. Seidel stöhnte. Für den kleinen Liebesdienst hatte der Luxemburger entschieden zuviel kassiert. Die KarteIlmitglieder hielten zusammen, wo es notwendig war; aber wenn große Summen auf dem Spiel standen, genierte sich keiner, dem Schwächeren eine Kreuzlage zu verpassen. Der Größte war eben der Luxemburger; er ließ die Puppen tanzen.
Die Währungsreform war im Lager ein beliebtes Thema für Streitgespräche und Erörterungen. Im Sommer waren sich aufmerksame Beobachter einig, daß in Deutschland etwas geschehen mußte. Immer deutlicher zeichnete sich die Spaltung zwischen West und Ost ab. Die Briten und Amerikaner hatten ihre Besatzungsgebiete zu einer Bizone vereinigt und einen gemeinsamen Wirtschaftsrat gebildet. Darin waren die USA maßgebend. «Die Franzosen fragt man erst gar nicht nach ihrer Meinung. Wenn's ums liebe Geld geht, befehlen die Amerikaner mit ihrem Marshall-Plan. Die anderen müssen parieren», sagte Gerber.
Harald nickte. So etwa sah er die Lage auch. «Aber die Gründung der Bizone hat noch einen anderen Zweck. Ist dir nicht aufgefallen, Gerhard, daß niemand mehr von der Verstaatlichung der Großindustrie und der Banken redet, auch nicht von Bodenreform? Dieser neue Wirtschaftsrat ist ein offener Bruch des Potsdamer Abkommens. Ich habe das Gefühl, daß die Imperialisten eine große Schweinerei vorbereiten.»
Die Bewachung des Lagers
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