Irrfahrt
Artikel in den Geschäften außerhalb des Lagers preiswert erwerben und gegen Lagergeld mit einer beträchtlichen Gewinnspanne weiterverkaufen.
Der Matrosenobergefreite Seidel beteiligte sich lebhaft an solchen Geschäften. Offiziell war er confidential clerk der Lagerleitung, hatte Einblick in viele Aktenstücke und konnte seine Geschäftsfreunde rechtzeitig warnen, wenn Gefahr drohte. Gerber blieb es unbegreiflich, wie sich Seidel auf diesem Posten behaupten konnte, denn eigentlich gehörten dazu gute englische Sprachkenntnisse. Seidel sprach jedoch nur ein paar Brocken.
Weitaus größere Geschäfte machte ein Mann, der aus Düdelingen in Luxemburg stammte. Sein Familienname lautete Boulanger. Man konnte ihn französisch oder deutsch aussprechen; meist sagte man einfach «der Luxemburger». Im Kriege hatte Boulanger bei der SS-Division «Das Reich» gedient und an dem Massaker von Oradour teilgenommen. In seiner Heimat stand er auf der Fahndungsliste für Kriegsverbrecher und Kollaborateure, aber das War Office nahm von dem Auslieferungsersuchen keinerlei Notiz.
Die großen Bosse dehnten ihre Unternehmen schnell aus und beschäftigten eine Menge von «Angestellten». Das waren kleine Schieber und Händler, die gegen Provision im Auftrag der Großen tätig waren. Arbeiten wollten sie außerhalb des Lagers nur, wenn es den Geschäftsbeziehungen förderlich war. Andernfalls spielten sie krank, erfanden hundert Ausreden oder verteilten Zigaretten an die Posten, um nicht für ein unangenehmes Arbeitskommando eingeteilt zu werden.
Allmählich wurde das Compound-System gelockert. Wer die richtigen Leute kannte, die am Lagertor standen, durfte sich ziemlich ungehindert im gesamten Lagerbereich bewegen.
Seidel und andere Großhändler, allen voran der Luxemburger, erweiterten ihre Geschäftsbeziehungen. Das Kartell bestimmte die Preise, und die kleinen Kommissionshändler, die ohne eigenes Kapital und Risiko arbeiteten, mußten sich den Weisungen der Großen fügen.
Jetzt ergaben sich Möglichkeiten, die alles Vorherige weit übertrafen. Die Großen hatten ihre Vertrauensleute in wichtigen Stellen sitzen: sie fegten die Wachstuben aus, waren als clerk beim Paymaster angestellt; die Beschwerdeschreiben an den Dolmetscher-Offizier gingen durch die Hände «ihres» confidential clerks, und in der Telefonzentrale half einer ihrer Leute.
Vor allem aber beherrschten sie die Lagerkantine, den Dreh- und Angelpunkt des geschäftlichen Lebens.
Wenn bei der wöchentlichen Lieferung nur wenig Zahnpasta mitgekommen war, beschloß das Kartell, sich auf diesen Artikel zu werfen. Der kleine Vorrat wurde teils en gros, teils durch Mittelsmänner, die vor der Kantine Schlange standen, aufgekauft. Nach einer halben Stunde gab es keine Zahnpasta mehr, und für eine Woche war auch kein Nachschub zu erwarten.
Nun wurden die Hausierer angesetzt, die zu einem Überpreis im ganzen Lager Zahnpasta verkauften. Der Gewinn floß in die Taschen des Kartells. Mitunter gelang es, ein derartiges Monopol über Wochen aufrechtzuerhalten. Erst wenn eine neue Lieferung der verknappten Artikel in der Kantine eintraf, brach das Kartell zusammen. Meist erkannten die Großen eine derartige Veränderung der Marktlage schon vorher und stießen ihre Bestände rechtzeitig ab.
Hatte der Bankdirektor aus Dresden nicht von Corner-Bildung gesprochen? Natürlich! Gerber verstand nun, wie die show inszeniert wurde. Man brauchte nur genügend Kapital.
Eines Tages kam Harald Kreutzmann zu Gerber auf die Baracke. Er brachte eine Ausgabe des «Daily Worker» mit und bat ihn, sich als Übersetzer zu betätigen.
Gerber, an systematisches Vorgehen gewöhnt, fing ganz oben an, mit der kurzen Zeile, die über dem Namen der Zeitung stand: «. Das heißt: Arbeiter aller Länder, schließt euch zusammen.»
«Na ja», sagte Kreutzmann, «das kann man aber besser übersetzen - Proletarier aller Länder, vereinigt euch!»
Dunkel entsann sich Gerber, diese Worte schon gehört zu haben. Woher sie stammten, wer sie geschrieben hatte, war ihm jedoch gänzlich unbekannt. Harald wußte es natürlich.
Nun erst einmal die Überschriften! Unmöglich, die ganze Zeitung zu übersetzen. Also eine kluge Auswahl treffen. Schließlich entschieden sich beide für einen längeren Aufsatz über die Verstaatlichung des Kohlenbergbaus. Das war interessant, die Gruben lagen ja direkt vor der Haustür. Auch andere Bewohner der Baracke hörten zu.
Vom
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