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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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Anpfiff bekommen. Er sagte nur: «Flagge Luzie!»
    Jeder wußte, was nun folgen würde. Luzie war der Signalbuchstabe L und bedeutete eine bevorstehende Veränderung der Formation.
    Die Rekruten waren vor dem Block angetreten. Der Zugführer kommandierte: «In zwei Minuten steht alles im Päckchen Blau!»
    Treppen hoch, Spind aufgerissen, die beste Garnitur heraus, umziehen. Die ersten drei, die mit einwandfreier Kleidung auf dem Appellplatz erschienen, durften wegtreten. Alle anderen mußten an der zweiten Runde teilnehmen.
    «In zwei Minuten steht alles im Sportzeug!» Wieder ging es die Treppe hoch. Ein Zug bestand aus fünfzig Mann. Also mußten einige Rekruten diesen Zirkus mehr als ein dutzendmal mitmachen. Natürlich wurden die Sachen dabei nicht geschont. Mancher Knopf riß ab, manches Dreieck in der Hose mußte anschließend geflickt werden. Abends Zeugappell und Spindmusterung.
    Die Vielfalt der Schikanen, die rüden Ausdrücke der Maate, das unsinnige Klopfen von Gewehrgriffen und die endlose Wiederholung der Lehrthemen - alles wirkte zusammen, daß jedes eigenständige Denken erlosch. Die Rekruten durften keinen eigenen Willen besitzen. Bedingungsloser Gehorsam war oberstes Gebot.
    Schon nach kurzer Zeit merkte Gerhard Gerber,daß mit ihm eine Veränderung vorging. Bisher hatte er auf eine Erniedrigung sehr empfindlich reagiert, jetzt stumpfte er zunehmend ab, wurde gleichgültig und stur. Die in Eckdorf gewonnene Erkenntnis, nicht aufzufallen, genügte hier nicht mehr. Abschalten war die einzige Möglichkeit, mit der neuen Lage fertig zu werden. Mechanisch führte er die Befehle aus. Ähnlich wie die Gliedmaßen im kalten Wasser langsam gefühllos werden, empfand er beim Dienst kaum noch geistige Regungen. Sein Inneres war abgestorben und nahezu unempfindlich geworden.
    Heinz Apelt, der es am schwersten hatte, drehte abends manchmal durch. Er war nahe am Heulen. Mit Argusaugen wachte Gerhard, daß der Freund keine Unbesonnenheit beging. Helmut hingegen fand selbst für die schikanöseste Maßnahme noch irgendeine Entschuldigung.
     
    Koppelmanns Traditionsgläubigkeit wurde auf eine harte Probe gestellt. Sein Zugführer, Oberbootsmann Döring, war ein Schleifer. Er hatte den Ehrgeiz, seinen Zug besser zu drillen als die anderen Einheitsführer. Am Sonntagvormittag, wenn überall auf Dänholm Ruhe herrschte, ließ er seine Leute auf einem Dachboden heimlich Griffe kloppen. Döring, von Beruf Fleischer, war schon acht Jahre bei der Marine. Es wurde erwogen, ob er zum Offizier geeignet wäre. Für ihn kam es jetzt «darauf an». Sein Zug spürte es.
    Auf dem Rückmarsch vom Geländedienst befahl Döring ein Lied. Die Rekruten waren müde und brachten lediglich einen kümmerlichen Gesang zustande. Döring tobte. «Gasmasken aufsetzen!» Im Laufschritt ging es um den Exerzierplatz. Dann folgte «Hüpfen mit Gewehr in Vorhalte». Drei Mann kippten vor Erschöpfung auf das Pflaster. Zur Strafe mußten sie auf der Fahrbahn mit Gewehr, Gasmaske und Stahlhelm «drei Rollen rückwärts» vorführen. Schließlich scheuchte Döring seinen Zug noch einige Male quer über den Platz. «Antreten!» Wieder befahl er ein Lied. Alle bemühten sich zu singen, was die Lunge hergab.
    «Abteilung ... halt! Liiinks ... um!» In diesem Augenblick schlug ein Soldat lang hin; sein Gewehr schepperte mit blechernem Klirren gegen die Gasmaskenbüchse. Döring ließ wegtreten. Vier Mann schafften den öhnmächtigen Kameraden ins Revier. Der Arzt untersuchte ihn: Herzschlag, tot.
    Auf den Stuben entbrannten heftige Diskussionen, was nun mit Döring geschehen würde. Einige tippten auf Degradierung, andere auf Strafabteilung.
    In der Nachbarkompanie war zur gleichen Zeit ein Bootsmann namens Hensche wegen Urlaubsüberschreitung zur Bestrafung fällig. Der Kommandeur der Abteilung fand eine geniale Lösung: Döring wurde strafweise zur vierten Kompanie versetzt, Bootsmann Hensche zur fünften Kompanie.
    Das überstieg sogar Koppelmanns Begriffsvermögen.
    «Regt euch nicht auf!» sagte der dicke und gemütliche Schreibstubenmaat. «Ein Toter, was ist das schon? Im Krieg sterben täglich Hunderte von Menschen, an manchen Tagen sogar Tausende. Von euch ist in zwei Jahren auch die Hälfte bei den Fischen. Regt euch nicht auf! Ein Toter, was ist das schon?»
    Döring wurde nicht Offizier, obwohl seine Dienstjahre diese Beförderung gerechtfertigt hätten. Aber nicht seine Rekrutenschinderei gab den Ausschlag, sondern seine Ehefrau.
    Frau

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