Irrfahrt
Döring war die Tochter eines kleinen Händlers, der im KeIlergeschoß eines Hauses in der Stralsunder Altstadt ein Lebensmittelgeschäft betrieb. Sie half ihm beim Verkauf. Sie war eine nette Frau und hinterließ bei einer Einladung ins Offizierskasino einen guten Eindruck. Der Kommandeur aber fand, daß sie wegen ihrer Tätigkeit in dem Kellerladen als Offiziersgattin untragbar war. Deshalb mußte Döring Oberbootsmann bleiben.
Das war ein Grund mehr für ihn, die Rekruten zu schleifen und seinen Ärger an ihnen auszulassen.
Nach vier Wochen erhielten die Rekruten zum erstenmal Ausgang. Über die Klappbrücke am Rügendamm zogen sie gruppenweise in die Stadt. Alle waren froh, für einige Stunden der Schleifinsel entronnen zu sein.
Die alte Hansestadt Stralsund bot dem Ortsfremden viele Sehenswürdigkeiten. Mancher Binnenländer sah hier erstmals in seinem Leben norddeutsche Backsteingotik. Hochaufragende Kirchen und das Rathaus mit seiner wundervoll gegliederten Schauwand zeugten von dem Reichtum vergangener Geschlechter.
Hinter dem Rathaus erhob sich ein gewaltiger Kirchenbau. Das reichgeschmückte Portal stand offen. Für zwanzig Pfennig konnte man den Turm besteigen. Die drei Freunde wollten sich das nicht entgehen lassen und kletterten die gewundene Stiege empor.
Ein herrlicher Ausblick belohnte sie für die Mühe. Die Stadt, der Hafen, Knieperteich und Frankenteich lagen zu ihren Füßen. Vom offenen Wasser her wehte ein scharfer Wind. Einst galt Stralsund wegen seiner günstigen strategischen Lage und der starken Befestigung als uneinnehmbar. Durch Strelasund und Gellenfahrt hatten die Bewohner auch während einer Belagerung immer Verbindung zur Außenwelt. An der Geschichte dieser Stadt konnte man gut studieren, welche Bedeutung der Seeherrschaft zukam: im Dreißigjährigen Krieg mußten Wallensteins Truppen nach zwei Monaten Belagerung unverrichteterdinge wieder abziehen.
Auf der Galerie des hohen Turmes fühlten sich die drei künftigen Seefahrer in die Rolle von Admirälen versetzt, die von der Brücke eines riesigen Schlachtschiffes aus schwerwiegende Entscheidungen zu treffen hatten.
Weite Gebiete der Altstadt bestanden aus niedrigen, eng aneinandergeschmiegten Häusern. Hier war nichts mehr von dem früheren Reichtum der Handelsfirmen und Patrizierfamilien zu spüren, hier wohnten die armen Leute.
Am Samstagnachmittag wimmelte die Innenstadt von Uniformen. Die verschiedenen Waffengattungen quirlten durcheinander, und alle Augenblicke mußten die drei Freunde irgendeinen Vorgesetzten stramm grüßen. Kinokarten waren ausverkauft, die Gaststätten überfüllt; nirgends konnten sie einen Platz finden. Da machte Heinz den Vorschlag, ins «Trocadero» zu gehen. Den Besuch dieses Lokals hatte der Kompaniechef ausdrücklich verboten; folglich hielten sie es für Ehrensache, wenigstens einmal dort gewesen zu sein.
Sie setzten sich an einen Tisch. Unaufgefordert nahmen drei grell geschminkte «Damen» in weit ausgeschnittenen Kleidern an ihrer Seite Platz und begannen sofort eine lebhafte Unterhaltung. Die jungen Männer hatten Wochen hindurch keine Frau gesehen und waren über die Abwechslung sehr erfreut.
Angeboten wurde nur ein Getränk, eine Art Glühwein. Er bestand aus minderwertigem Alkohol, Süßstoff, roter Farbe und hatte ein widerliches Aroma. Das Glas kostete zwei Mark fünfzig. Im Verlauf einer kurzen halben Stunde trank jede der «Damen» vier Glas Glühwein. Helmut überschlug im stillen seine Barschaft und wurde unruhig. Als Heinz das eigentliche Thema anschnitt, zuckten die Damen bedauernd mit den Schultern; sie waren «fest angestellt» und durften daher nicht mitkommen.
Daraufhin gingen die Freunde in den Ratskeller am Alten Markt. Mit Genuß verspeisten sie frisch geräucherte Bücklinge, im dritten Kriegsjahr eine seltene Delikatesse.
Trotz des Reinfalls im «Trocadero» gab Heinz die Hoffnung nicht auf, ein «passendes Mädchen» kennenzulernen. Eine der Kellnerinnen schien ihm zugeneigt. Er lud sie an der Theke zu einem Weinbrand ein. Vorsichtig fragte er, ob sie Lust hätte, am nächsten Wochenende mit ins Kino zu gehen.
Die Kellnerin sah ihn lange an. Dann musterte sie seine Uniform und betrachtete eingehend alle die Stellen, wo höhere Dienstgrade ihre Rangabzeichen zu tragen pflegen. Mit einem spöttischen Lächeln sagte sie: «Du bist nur ein Rekrut, mein Junge! Wenn's hoch kommt, hast du zweimal in der Woche Ausgang. Um zehn mußt du wieder in deiner Kaserne sein.
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