Irrfahrt
eine Bodenvertiefung, in der noch Schneematsch lag. Als Gerber an diese Stelle kam, hieß es: «Auf dem Koppelschloß kehrt!»
Nach einer halben Stunde war Gerber so fertig, daß er kaum stehen konnte. Noch einmal rieb ihm Hensche seine Formulierung unter die Nase. «Wohl die Rede des Führers nicht gehört, was? Die Bolschewisten machen sich mausig. Wir verteidigen nicht nur Großdeutschland, sondern ganz Europa! Und da faseln Sie von Rückzug?»
Gerber torkelte auf seine Stube. Die Kameraden halfen ihm, seine Sachen zu säubern und im Spind zu verstauen. Heinz Apelt putzte das verdreckte Gewehr, denn bestimmt hatte Hensche für den Abend eine Inspektion angeordnet.
Gerhard Gerber kochte vor Wut. «Umbringen müßte man diesen Scheißkerl, mit dem Gewehrkolben erschlagen. Das wäre standesgemäß für einen Ausbilder!»
«Sei bloß still», sagte Helmut erschrocken, «sonst macht er dich noch ganz fertig. Niemand wird ihm dafür auf den Schwanz treten; das haben wir doch bei Döring gesehen. Es ist zwecklos, solchen Typen zu zeigen, daß man sie haßt. Damit handelt man sich nur Arrest ein oder sogar Strafabteilung. Und dann ist deine Laufbahn im Eimer.»
Als Gerhard sich beruhigt hatte und wieder bei Kräften war, sah er das ein. Es war wirklich zwecklos, Hensche umzubringen.
Aller Haß, der eigentlich den Ausbildern galt, konzentrierte sich auf die Kriegsgegner, vor allem auf Großbritannien, den Hauptfeind zur See. Die Briten zu hassen war erlaubt, war erwünscht, war ausdrücklich befohlen. Das gehörte zur Tradition der deutschen Kriegsmarine.
Nachts halb zwei: «Alaaarm! Alarm Küste zur Übung!»
Diesem Kriegsspiel lag die Annahme zugrunde, daß die Russen auf der Insel Rügen gelandet wären und Stralsund bedrohten. Die Aufgabe lautete, ihr Vordringen auf das Festland zu verhindern.
Die «rote» Partei wurde von einigen hundert SS-Rekruten gespielt, die in Stralsund stationiert waren. Marine und Heer stellten die «blaue» Partei dar. Die Flieger aus Parow gehörten zur roten Partei. Parow durfte aber von der blauen Partei nie besetzt werden, obwohl das technisch leicht möglich gewesen wäre.
In den frühen Morgenstunden marschierte die Kompanie über den langen Arm des Rügendamms. Kurz vor dem Bahnhof Altefähr geschah es: Drei Me 109 flogen einen Tiefangriff auf die Einheit. Die Rekruten warfen sich in das taufrische Gras, konnten aber an dem kahlen Bahndamm keine genügende Deckung finden. Sofort kam ein Schiedsrichter angelaufen. «Schweinerei! Das ist doch keine Deckung! Zwanzig Tote abzählen!»
Helmut Koppelmann war unter den «Toten». Sie durften ihre Stahlpütz absetzen und mit Feldmütze, dem Abzeichen der Toten bei jeder Übung, unter Führung des ebenfalls ums Leben gekommenen Obermaats Bock in die Kaserne zurücklaufen. Ankunft: sechs Uhr. Bock verzog sich bald darauf in die Stadt; dort hatte er eine Freundin, die ihm Sauerkraut und Geselchtes kochte.
Die «Toten» waren unter sich. Zunächst wurde gut gefrühstückt und anschließend der verlorene Schlaf nachgeholt. Mittags erhielten sie in der Kombüse anstandslos einen Schlag Essen. Der Nachmittag verging bei Bier und einem gemütlichen Skat.
Abends kehrte die Kompanie aus der Übung zurück. Man hatte sie bis hinter Samtens marschieren lassen, wo sie endlich auf die Vorhut von «Rot» gestoßen war. Dreckig, hungrig und mit Blasen an den Füßen schlichen die Helden von Rügen auf ihre Stuben.
Koppelmann hatte den ruhigsten Tag seines militärischen Daseins verbracht.
Anfang April mußte Gerber auf Torwache ziehen. Das war nicht weiter schlimm. Zwar kam er in der Nacht kaum zum Schlafen, weil er immer wieder stundenweise Dienst hatte; aber dafür brauchte er zwei Tage lang nicht auf dem Kasernenhof zu stehen.
Gerber zog die Hundswache. Mitternacht bis zwei Uhr. Ein scharfer, kalter Wind blies vom Bodden her über die Insel. Am nächsten Tag plagten ihn heftige Schmerzen im linken Ohr. Das Fieberthermometer zeigte 39,5 Grad. Als nach drei Tagen keine Besserung eintrat, kam er ins Marinelazarett.
Malerisch lag der elegant geschwungene, dunkelrote Klinkersteinbau am Sund. Erst kurz vor Ausbruch des Krieges war er fertiggestellt worden. Für Gerber hatte das Lazarett nur einen Fehler: Von hier aus konnte er die Schleifinsel sehen.
Führers Geburtstag. Eine Ortsgruppe der NS-Frauenschaft brachte Liebesgaben. Jeder wurde gefragt, wo er verwundet war. Stumm deutete Gerber auf sein Ohr, das dick in Watte gepackt war.
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