Irrfahrt
«Meine Schwester», sagte Vogel mit Stolz.
Das war ein Fehler. Eine hübsche Freundin hätte man ihm vielleicht gegönnt, eine hübsche Schwester nicht. Systematisch begann Althoff, diese Schwester in gemeiner Weise zu verdächtigen. Er behauptete, sie im Arm eines betrunkenen Matrosen gegen Mitternacht auf der Reeperbahn gesehen zu haben. Vogel nahm das für Ernst und wurde böse. Heftig bestritt er, daß seine Schwester jemals so etwas tun würde. Da er nicht besonders wortgewandt war, wurde er von Althoff und dessen Kumpanen auf den Sand gesetzt. Grollend zog Vogel sich in seine Koje zurück.
Für Gerber war es nun an der Zeit, sich zu melden. Er klopfte beim Bootsmann Kehlhus. «Kumm rin», sagte eine kratzige Stimme. «Wat, schun wedder een niejer Gast? Dats all feiiin!»
Oberleutnant Häfner, der Kommandant, war in seiner Kajüte. Er trug eine ausgebeulte Strickjacke und las in einem Buch. Gerber baute vorschriftsmäßig Männchen. Unwillig sah der Kommandant hoch. Er fühlte sich in seiner spannenden Lektüre gestört. Ohne das Buch beiseite zu legen, stellte er ein paar Fragen über Heimat, Alter und bisherige Ausbildung. Eine Handbewegung, und Gerber war entlassen. Die Vorstellung hatte knapp eine Minute gedauert.
Gerber schätzte den «Alten» auf fünfunddreißig bis vierzig. An den Schläfen wurde er schon grau. Also Reservist, dachte Gerber. Ein aktiver Offizier wäre in diesem Alter kaum noch Oberleutnant.
Nachmittags war Zeugdienst angesetzt. Gerber bügelte sein Blauzeug, das von der langen Fahrt ziemlich zerknittert war. Um vier Uhr schickte ihn Schabe als Posten auf die Pier. Dort stand er noch, als die Besatzung schon gemütlich beim Abendessen saß.
Der Sechs-Uhr-Posten kam um halb sieben. Von Pünktlichkeit schien man auf Boot 4600 nicht viel zu halten.
Gerbers Ablösung war der Maschinengefreite Joachim Hansen, ein gelernter Schiffsmotorenschlosser. Hansen näherte sich im Schlenderschritt. Vor dem Kommandantenschapp spuckte er erst einmal geräuschvoll über die Reling, womit er seine Verachtung für Häfner und alle Offiziere zum Ausdruck brachte. Dabei war Häfner noch keineswegs der Schlimmste. Es gab Leute, die Hansen viel weniger leiden konnte. Aber er hütete sich, dem neuen Besatzungsmitglied etwas zu erzählen. Im Gegenteil. Dieser Bürgersohn kam von einer höheren Schule, auf der man ihm alles mögliche Zeug eingetrichtert hatte: Erbbiologie und völkische Geschichte. Um zu beweisen, was er davon hielt, spuckte er gleich noch einmal aus, in knappem Bogen an Gerber vorbei.
In der Nacht mußte Gerber zum zweitenmal auf Posten ziehen. Vogel löste ihn ab. Für diese unangenehme Mittelwache hatte man natürlich die jungen Gasten ausersehen. Todmüde fiel Gerber in seine Koje.
Ein neuer Tag begann.
Nach dem Frühstück pfiff Bootsmann Kehlhus zum Antreten. Ein wüster Haufen baute sich an Deck auf. Kaum zwei Mann trugen die gleiche Bekleidung. Der Acht-Uhr-Posten erschien im blauen Päckchen, desgleichen ein Obergefreiter, der sich sofort an Land abmeldete. Man sah Takelzeug, blaue Pullover, ölverschmiertes Arbeitszeug. Schabe hatte eine schwere dunkelbraune Lederhose an.
Ebenso kunterbunt waren die Kopfbedeckungen. Es gab Tellermützen, Krätzchen, Bommelmützen aus Wolle. Auf Ritters Kopf thronte ein schwarzes Schiffchen, das noch aus seiner Pimpfenzeit stammte.
Auch das Schuhwerk war sehr abwechslungsreich: Seestiefel, hohe Lederschuhe, Bordschuhe, Gummistiefel, Turnschuhe. Einer trug handgeschnitzte Holzpantinen, die er während einer Werftliegezeit in Holland «gefunden» hatte. Gerber, der von Dänholm peinliche Ordnung gewohnt war, kam aus dem Staunen nicht heraus.
Als es an die Aufteilung der Arbeit ging, verholten sich die Heizer in die Maschine, die Funker in ihr Schapp. Alle Spezialisten vom Signalgast bis zum Sperrmechaniker gaben vor, unaufschiebbare Arbeiten erledigen zu müssen. In weniger als einer Minute war der Haufen auf acht Mann zusammengeschrumpft. Zum Deckschrubben blieben lediglich einige Matrosen übrig.
Im Grunde genommen war nur wenig zu tun. Die einzige Kunst bestand darin, das Wenige gleichmäßig über die Vormittagsstunden zu verteilen. Ein Auge an einem Tampen mußte neu gespleißt werden. Althoff tat das so gründlich und voller Hingabe, daß er kurz vor dem Essen damit fertig wurde. Gerber half Ritter beim Einfetten der Scharniere an Schotten und Bullaugen. Eigentlich war das überflüssig, denn die Scharniere waren erst in der Woche
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