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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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Stadt kaufte er sich ein kleines Buch über Frankreich, eine Art Reiseführer mit bunten Karten. Aus diesem Werk erfuhr er, daß die Segelschiffe aus Saint-Malo früher Stockfische aus dem hohen Norden geholt und bis nach Spanien und Italien verkauft hatten. Weit einträglicher wurde jedoch die Seeräuberei, und auf diesem Gebiet sammelten die Einwohner von Saint-Malo beträchtliche Erfahrungen. Nicht selten kaperten sie Schiffe mit Indigo oder Kakao, Zucker oder Tabak. Es war Kriegsbeute und Handelsware zugleich.
    Die erfolgreichen Piraten genossen hohes Ansehen bei ihren Mitbürgern, denn sie brachten Geld in die Stadt. Der bedeutendste Vertreter dieser Zunft war ein gewisser Robert Surcouf, der unter Napoleon in der Flotte diente und Kaperfahrten unternahm. Erzählungen über Surcouf hatte Gerhard während seiner Schulzeit mit Heißhunger verschlungen. Hier in Saint-Malo begegnete er ihm wieder. Sein Denkmal stand vor der Stadtmauer, neben dem kleinen Tor.
    Weitaus interessanter als die Historie fand Gerhard den gastronomischen Teil, der jedem Kapitel angehängt war. Er enthielt ausführliche Hinweise auf Spezialgerichte verschiedener Landschaften und Städte. Gerhard schlug «seine» Provinz auf: «Die Bretagne ist ein Paradies der Muschel-, Schaltier- und Fischliebhaber». Von Austern, Hummern und Langusten war die Rede, von Köstlichkeiten, die er nur dem Namen nach kannte. Als Spezialität von Saint-Malo wurde turbot grille (gerösteter Steinbutt) gepriesen, angerichtet mit einer würzigen Pilzsoße.
    Gerhard lief das Wasser im Mund zusammen. Beim nächsten Landgang überredete er Althoff und Schabe, mit ihm essen zu gehen. Sogar Gerd Knoop schloß sich an. Auf gut Glück betraten sie eines der zahllosen kleinen Restaurants. Gerber wollte mit seinen neuen Kenntnissen glänzen und fragte nach Steinbutt.
    «Mais naturellement», sagte die Kellnerin höflich. Turbot hätten sie zwar nicht im Hause, wäre aber schnell zu beschaffen, tout de suite. Ganz so schnell ging es nun doch nicht, und die Männer trösteten sich inzwischen mit Rotwein.
    Die Kellnerin stellte eine Schale mit Brotscheiben auf den Tisch. Das Brot war grau und muffig, genau wie das Brot auf den Booten der Kriegsmarine. Früher kannte man in Frankreich nur Weißbrot, sagte die Kellnerin entschuldigend. Cest la guerre!...
    Endlich wurde eine dampfende Schüssel aufgetragen. Die Kellnerin zerlegte den Steinbutt geschickt. Das Gericht schmeckte vorzüglich. Allerdings war auch der Preis vorzüglich. Gerbers halber Monatssold ging dabei drauf. «Macht nichts», sagte Althoff, «ehe wir absaufen, wollen wir wenigstens noch was vom Leben haben.»
    Gerber war entsetzt. Absaufen? Sterben? Daran hatte er noch gar nicht gedacht.
    Abends, als der Landurlaub zu Ende ging, vermißte die Besatzung einen Mann. Antreten auf der Back, Vollzähligkeitsmusterung.
    Hansen fehlte. Wo konnte er stecken? Ganz allein war er in Richtung Vorort losgezogen. Rückfrage beim Flottillenstab: Jawohl, der Maschinengefreite Hansen ist festgenommen, von der Feldgendarmerie.
    Festgenommen? Gerber konnte sich das nicht erklären. Hansen war nicht der Typ, eine Schlägerei anzufangen oder Unvorsichtigkeiten zu begehen.
    Am nächsten Morgen kam ein Marinegerichtsrat an Bord. Er beschlagnahmte die Back in der Offiziersmesse und begann die Besatzungsmitglieder einzeln zu verhören. Wer kennt Hansen genauer? Wohin geht er an Land? Welche Lokale bevorzugt er? Wie kommt er mit seinem Sold aus? Macht er Schulden, verkauft er Klamotten oder Kantinenware? Vor allem aber: Mit wem verkehrt er?
    Die Auskünfte waren dürftig. Aus dem Maschinenmaat, der Hansen am besten kannte, war nichts Belastendes herauszuholen. Die anderen einigten sich schnell, was sie dem Störenfried mit den silbernen Ärmelstreifen erzählen sollten und was nicht. Hansen verpfeifen? Das kam nicht in Frage.
    Einige Tage später kehrte Hansen zurück. Gleichmütig berichtete er, was vorgefallen war. Jemand wollte ihn beim Landgang beschatten. Er merkte es und ging fünfmal um denselben Häuserblock. Schließlich wurde es dem Greifer zu dumm. Er ließ Hansen verhaften. Trotz aller Drohungen blieb Hansen dabei, daß er nur einen kleinen Spaziergang unternehmen wollte.
    Der Flottillenchef buchtete ihn drei Tage ein. «Prophylaktisch», wie er sagte. In Wirklichkeit war er wütend, daß die kunstvoll aufgebaute Überwachung des Verdächtigen wieder keinen Erfolg gebracht hatte.
    Die Arreststrafe war völlig unbegründet.

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