Irrfahrt
Europa erobert.
Viele Klassenkameraden waren inzwischen eingezogen, schrieb Vater. Der kleine Kalle stand als MG-Schütze irgendwo im Süden Rußlands. Wolfram Diederich hatte es zum Fahnenjunker-Unteroffizier gebracht. Der Glückliche! Allerdings war er ein halbes Jahr eher von der Schule abgegangen.
Andere waren noch in Deutschland. Stolt zum Beispiel. Mit Beziehungen hatte er es gedeichselt, daß seine Ausbildung zum Piloten im Fliegerhorst der Heimatstadt erfolgte. Jedes Wochenende konnte er nach Hause. In seiner blauen Uniform stolzierte er durch die Gegend und wurde von den Mädchen umschwärmt.
So gut hatten es Heinz Apelt und Helmut Koppelmann nicht getroffen. Sie saßen an weit entfernten Orten - der eine an der Nordsee, der andere an der Ostsee. Während Helmut fleißig schrieb, ließ Heinz lange nichts von sich hören. Endlich kam ein dicker Brief.
«Mich haben sie gewaltig hereingelegt», las Gerhard. «Ein Sonderkommando war versprochen, und wo bin ich? Auf der Marineflakschule in Holstein. Hier ist es schlimmer als in Stralsund. Kniebeuge mit Gewehr in Vorhalte gibt's nicht, dafür dasselbe mit dem Lauf einer Zweizentimeterkanone. Mir macht es ja nichts aus, aber einige kippen dabei um ... Manchmal ist Fliegeralarm. Unsere leichten Waffen können nichts ausrichten, die Tommies fliegen viel zu hoch ... In diesem öden Kaff vertrödele ich nur die Zeit. Horst Heise, der eine Klasse höher war, ist schon Leutnant an der Ostfront. Das geht jetzt ohne Kriegsschule, nur mit einem Schnellkursus beim Divisionsstab. Und wir Ochsen haben uns zur Marine gemeldet und sind immer noch Matrosen! ... Der Kompaniechef hat den Besten von uns ein interessantes Seekommando in Aussicht gestellt. Ich gebe mir große Mühe, vielleicht schaffe ich es. Die sechs Wochen Flakschule sind ja bald herum. Schreib sofort, mein Alter! Du fehlst mir sehr...»
Nachdenklich faltete Gerhard die Bogen zusammen. Der Freund war vom Pech verfolgt. Und er hatte am meisten darauf gebrannt, in den Krieg zu kommen. Jeden Mittag wurde im Logis das Radio angedreht. Wehrmachtbericht. Halbinsel Kertsch erobert, Schlacht um Charkow abgeschlossen, Donezbecken fest in deutscher Hand. Seit Anfang Juni heftige Kämpfe auf der Krim, besonders um den Kriegshafen Sewastopol. Trotz Einsatz schwerster Waffen kaum Fortschritte. Offenbar sollte die Entscheidung an der Südfront fallen. Sonst herrschte an weiten Strecken Ruhe. Nur die Front in Afrika war in Bewegung. Generalfeldmarschall Rommel stieß erneut auf Tobruk vor. Was dort geschah, hielt man auf Boot 00 für unbedeutend. Niemand wußte, wo Tobruk lag. «Irgend-wo in Ägypten», meinte Schabe.
Die Japaner schlugen sich im Pazifik mit den Amerikanern herum. Seeschlacht bei den Midwayinseln. Über hundert Kriegsschiffe waren in Einsatz. Aus den Berichten ging hervor, daß die japanische Flotte haushoch überlegen war. Dennoch kam keine eindeutige Siegesmeldung. Es hatte den Anschein, als ob die Kämpfe hauptsächlich durch Flugzeuge entschieden wurden und die Japaner dabei nicht sehr günstig abschnitten.
So etwas hatte die Kriegsmarine nicht aufzuweisen. Über kleine Gefechte waren die Überwassereinheiten bisher nicht hinausgelangt. Irgendwie hatten sich in diesem Krieg die Gewichte völlig verschoben.
Gerber merkte, daß er den Überblick verlor. Die Lagebesprechungen alten Stils fehlten ihm. Auf dem Boot gab es keinen politischen Unterricht. Vor allem: Es gab keinen Dr. Vetter, bei dem man sich Rat holen konnte. Die Männer lebten in den Tag hinein; sie machten sich wenig Gedanken.
Hansen, der vielleicht einiges wußte, verhielt sich zugeknöpft. Nur einmal sagte er zu Gerber: «An der Sowjetunion wird Hitler sich die Zähne ausbeißen.» Gerber glaubte das nicht. Die letzten Erfolge standen dagegen.
Immerhin eine Seeschlacht, eine richtige Seeschlacht!
Eine Nachricht aus der Heimat traf ihn tief. Kuhle, der Erdkundelehrer, war tot. Herzschlag. Der hünenhafte Mann mit dem klaren Verstand war ihm der liebste von allen Lehrern - gewesen. Was hatte Kuhle doch über den Norden Frankreichs gesagt? Die Bretonen sind eigentlich Kelten, also nicht mit den Franzosen verwandt, eher mit Iren und Schotten. In der Bretagne sollte es noch ältere Leute geben, die kein Wort Französisch sprachen.
Gerhard bedauerte, daß Helmut Koppelmann nicht bei ihm war. Der hätte bestimmt schon eine Menge wissenswerter Einzelheiten über Land und Leute zusammengetragen. Das blieb ihm nun selbst überlassen. In der
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