Irrfahrt
Panzerkreuzer. Es war die große Zeit der Kriegsmarine, an die alle älteren Seeoffiziere mit Stolz und Wehmut zurückdachten.
Auch Gerber konnte sich der erhebenden Wirkung nicht entziehen. Mit glänzenden Augen saß er über den Abbildungen:
Linienschif f «Kaiser» - 27000 Tonnen, 172 Meter lang, Höchstgeschwindigkeit 23,4 Knoten, fünf Doppeltürme mit 30,5-cm-Geschützen, außerdem vierzehn 15,0-cm- und acht 8,8-cm-Geschütze sowie fünf Torpedorohre.
Der Schlachtkreuzer «Derfflinger» war mit 31200 Tonnen noch schwerer als die Kaiser-Klasse, außerdem 38 Meter länger und 2,6 Knoten schneller als diese.
Leider besaßen auch die Briten solche Schiffe, und zwar wesentlich mehr.
Der Weltkrieg. Gegen Deutschland standen 1914 Frankreich, Rußland und England, und hinter England standen die USA - genau wie heute. Die britische Flotte beschränkte sich zunächst auf eine Fernblockade der deutschen Küsten, für die es bereits in der Strategie des Admirals Nelson eine Parallele gab. Ihre völkerrechtliche Zulässigkeit war umstritten. Aber das ließ Großbritannien gleichgültig, wofür es ebenfalls in der Geschichte des Seekrieges genügend Beispiele gab.
Unterdessen versuchten die Briten auf den Rat ihres Marineministers hin, auf der türkischen Halbinsel Gallipoli zu landen. Das Unternehmen schlug fehl, allerdings mehr wegen der Unfähigkeit der Generale als wegen der strategischen Konzeption. Marineminister Churchill wurde aus dem Amt gejagt, was jedoch seiner Karriere später keinen Abbruch tat.
Skagerrak. Admiral Scheer lief in eine taktische Falle des Gegners, kam glücklich wieder heraus, lief daraufhin zum zweitenmal in dieselbe Falle und kam entgegen allen vernünftigen Erwartungen doch nach Hause. Die deutschen Autoren bezeichneten diese Schlacht als einen überragenden Sieg der kaiserlichen Flotte. Hämische Bemerkungen ließen vermuten, daß auch die Briten den Anspruch auf Sieg erhoben.
Gerber wurde neugierig. Was war nun richtig? Er paßte einen günstigen Augenblick ab und legte dem freundlichen Bootsmann, der die Bibliothek betreute, eine Schachtel Zigaretten auf den Schreibtisch. Der Bootsmann überlegte ein Weilchen, gab ihm dann aber die verbotene Literatur unter der Bedingung, sie im Bibliotheksraum zu lesen.
In der technischen Darstellung stimmten deutsche und britische Quellen auf die Minute überein. Die Deutschen leiteten den Sieg von den höheren Verlusten des Gegners ab, die Briten betonten, daß die mißlungene Brechung der Blockade, die schließlich Deutschlands Niederlage herbeiführte, entscheidend gewesen wäre. Deutschland hatte den Sieg vor dem Skagerrak, Britannien bei Jütland errungen.
Gerber war so beschäftigt, daß er den Eintritt des Kapitänleutnants mit dem flotten Bärtchen beinahe überhört hätte. Es gelang ihm gerade noch, das verräterische Buch in den Tischkasten zu schieben.
Der Kaleu warf einen Blick auf die aufgeschlagenen Bände. «Aha, die Schlacht am Skagerrak», sagte er und lächelte maliziös. «Ein paar U-Boote in den Rücken der Briten, und die Royal Navy wäre total abgesoffen.»
Das Jahr 1942 ging zu Ende. Auch der Dezember hatte noch ein gutes Versenkungsergebnis gebracht. Am Silvestertag befanden sich Schüler und Ausbilder in Hochstimmung, zumal der Chef in seiner Ansprache gesagt hatte, daß der Tonnagewettlauf für Deutschland günstig stehe und die Entscheidung unter allen Umständen im kommenden Jahr fallen würde.
Niemand ahnte, daß sich ausgerechnet in diesen Stunden über der Seekriegsleitung ein folgenschweres Unwetter zusammenbraute.
Schon am 24. Dezember hatten Aufklärer einen britischen Konvoi gesichtet, der von Schottland in Richtung Nordmeer unterwegs war. Er bestand zwar nur aus vierzehn Frachtern, aber der starke Geleitschutz deutete darauf hin, daß wertvolles Kriegsmaterial für die Sowjetunion transportiert wurde.
Raeder wollte sich den Fang nicht entgehen lassen. Die Seekriegsleitung trug noch schwer an dem Mißgeschick, das die Flotte bei ihrem letzten Großeinsatz am 2. Juli getroffen hatte. Ein Teil der Schiffe war in den tückischen Schärengewässern steckengeblieben. Daraufhin beorderte Hitler den ganzen Verband rigoros zurück und beauftragte Dönitz, mit seinen U-Boot-Rudeln den Geleitzug zu vernichten.
Fünf Tage waren vergangen, und noch immer hatte sich HitIer nicht zu dem von Raeder vorgelegten Plan geäußert. Am 30. Dezember, als der Konvoi bereits die Barentssee erreicht hatte, gab er endlich
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