Irrfahrt
Reichsmarinezeit - sollte sich ein Offizier nicht befassen.
Die jüngeren Ausbilder dachten darüber anders. Der Kapitänleutnant mit dem Bärtchen setzte sich nach Dienstschluß mit seinen Zöglingen in der Kantine zusammen. Er spendierte sogar eine Runde Bier. «Paßt mal auf, Jungs, was wir in den kommenden Monaten erleben! Dönitz wird jetzt aufräumen. Viele hohe Posten müssen neu besetzt werden, schließlich brauchen die Jüngeren auch mal eine Chance. Nicht die Schiffe, die Admirale müssen wir verschrotten! Dönitz ist der Mann, der den Seekrieg wieder in Schwung bringt... »
Die meisten Schüler dachten genauso, besonders die U-Boot-Fahrer. Dönitz war «ihr Mann».
Gerhard Gerber konnte sich mit dem Führungswechsel nicht so schnell abfinden wie Helmut Koppelmann. Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß jemand, der gestern noch als Vorbild verherrlicht wurde, vierundzwanzig Stunden später sang- und klanglos von der Bildfläche verschwand. Beim Heer war das ja nichts Neues, aber bei der Marine?
Gerhard war ziemlich verwirrt. Früher hatte er mit seinen Freunden alles besprochen. Gemeinsam war es ihnen gelungen, die schwierigsten Situationen zu meistern. Obwohl er Helmut täglich sah, empfand er immer stärker, daß sie sich auf unbegreifliche Weise voneinander entfernten. Es kam selten vor, daß sie allein waren. Dabei verband sie doch so vieles: Schulzeit, Arbeitsdienst, die harten Monate auf dem Dänholm. Auch jetzt saßen sie wieder im selben Boot - und waren doch nicht mehr dieselben.
Diese Erkenntnis schmerzte ihn. Er verkroch sich in die Bibliothek und setzte seine unterbrochenen Studien fort.
Nach der Schlacht am Skagerrak wurde es still um die deutsche Hochseeflotte. Untätig lag sie auf der SchilligReede vor Wilhelmshaven. Sie beherrschte zwar die Ostsee, aber in die verminte Nordsee wagten sich nur Minensucher, Untersee- und Torpedoboote. Auf die tapferen Minensucher wurde ein Loblied gesungen. Ohne sie wäre kaum ein U-Boot zum Einsatz gekommen.
Gerhard fühlte sich erhoben. Endlich war der Beweis erbracht, daß auch seine Waffengattung eine ruhmreiche Vergangenheit besaß.
Das Hochgefühl wich, als er sich dem dunkelsten Kapitel der deutschen Marinegeschichte zuwendete: den Matrosenaufständen. Jene Ereignisse, die 1917 in Wilhelmshaven auf «Prinzregent Luitpold» und «Friedrich der Große» ihren Ausgang nahmen, hielt man der Kriegsmarine heute noch bei gewissen Anlässen vor. Besonders die Herren vom Heer waren darin sehr eifrig. «Befleckte Ehre der Flotte», hieß es, «Dolchstoß in den Rücken des schwer kämpfenden Heeres», «Verrat an Kaiser und Reich». Die aufsässigen Matrosen wurden mit eiserner Faust zur Raison gebracht, die Anführer zum Tode verurteilt und von einer Gewehrsalve niedergestreckt.
Wie war es dazu gekommen?
Gerhard blätterte in der gängigen Literatur, aber die Erläuterungen blieben ihm unklar. Er begrif f eigentlich nur, daß die schlechte Verpflegung eine Rolle gespielt hatte, wahrscheinlich auch der krasse Unterschied zwischen Offizierskorps und Mannschaften sowie die Untätigkeit, zu der die großen Schiffe verdammt waren. All das konnte Ende Oktober 1918 nicht mehr der Grund sein. Der Krieg war für Deutschland eindeutig verloren. Trotzdem wollten die Admirale noch einmal hinaus aufs Meer, in einen letzten Kampf gegen die überlegene britische Schlachtflotte, um traditionsgemäß mit wehender Flagge unterzugehen. Aber die Matrosen machten nicht mit. Sie löschten die Feuer in den Kesseln, hißten rote Fahnen und verhinderten das Auslaufen der Schiffe.
Gerhard fand das ganz vernünftig. Warum sollten achtzigtausend Mann sterben, wo doch nichts mehr zu retten war? Was ihn störte, waren die roten Fahnen. Verhielt es sich wirklich so, daß die Matrosen von der «bolschewistischen Revolution» angesteckt waren? Tirpitz schrieb in seinen Memoiren vom Einfluß der Kieler Werftarbeiter, unter denen sich viele «linksradikale Elemente» befanden. Wie aber paßten die Matrosen mit den Werftarbeitern zusammen?
Auch diese Fragen mußte er bei Dr. Vetter anschneiden. Urlaub war ja nun bald fällig.
Die Versenkung der Hochseeflotte besorgte dann acht Monate später ein Konteradmiral namens Reuter in der Bucht von Scapa Flow. Dort waren über siebzig deutsche Kriegsschiffe interniert, natürlich die größten und modernsten. Die Schiffe waren abgerüstet und hatten stark verringerte deutsche Besatzungen an Bord. Um zu verhindern, daß sie eine bequeme
Weitere Kostenlose Bücher