Irrliebe
vorgegaukelt wird, ist dem Untergang geweiht«, prophezeite er nicht ohne Wohlgefallen. »Die Welt hier«, er deutete ausladend mit der Bierflasche in der Hand auf das Fenster, »ist real und deshalb ehrlich. Im Fernsehen sprechen sie von Migration und Integration. Hier in unserer Nordstadt wird sie gelebt. Und hier finden die sozialen und wirtschaftlichen Probleme unserer Gesellschaft eine Antwort. Wir leben hier eine machbare Welt, und deshalb liebe ich sie, auch wenn sie nicht das Wunderland ist, das uns die Politik immer wieder verheißt. Politikerlügen.«
»Und Franziska?«, fragte Stephan dazwischen.
»Franziska hat diese Welt gemocht«, erwiderte er. »Sie hatte ihre Ausbildung zur Krankenschwester beendet und zuletzt die Stelle im Hospital in Kurl bekommen. Ich hatte zunächst einen Job in einer Softwarefirma. Der Laden machte pleite. Was machen Sie dagegen? Nichts. War eigentlich ein sicherer Job. Zukunftsstarke Branche, wie man sagt. Aber was hilft das bei einer desolaten Geschäftsführung?«
»Aber du wirst doch bald wieder einen gut dotierten Job finden«, sagte Marie.
Daniel zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Und Franziska?«, fragte Stephan wieder.
»Wir hatten hier unser Nest«, antwortete Daniel, sichtlich selbst davon überrascht, dass er diesen spießig anmutenden Begriff benutzt hatte. »Und das Wesen eines jeden Nestes ist, dass es für eine bestimmte Zeit zum Leben taugt. So war es auch mit Franziska. Sie hatte bei mir gefunden, was sie suchte. Ich nahm sie, wie sie war, und umgekehrt war es genauso. Wir hatten eine gute Zeit, ruhige und stürmische Phasen, aber immer getragen von dem Wissen, sich dem anderen hingeben und sich fallen lassen zu können.«
Marie dachte an die einleitenden Worte in Franziskas Anzeige. Hatte sie sich wirklich Daniel hingegeben?
»Wir Menschen haben ein Grundproblem«, dozierte Daniel weiter. »Wir sind mit dem, was wir erreicht haben, nie zufrieden. Wir wertschätzen es nicht mehr, wenn wir uns daran gewöhnt haben. Als Franziska bei mir gefunden hatte, was sie suchte, war das der Anfang vom Ende. Sie war kein Mensch, der für sich erkennen konnte, dass ihn das Erreichte zufrieden machen würde. Man muss Zufriedenheit zulassen können. Aber sie gehörte zu den Menschen, die nach dem Erreichen eines Zieles beginnen, ein neues zu suchen. Solche Menschen sind rastlos. Sie sind nicht überlebensfähig. Denn sie gieren nach einem Glück, das sie letztlich nicht finden können.«
»Wie kam es zu dem Kontakt mit dem Mann mit dem Fahrrad?«, bohrte Stephan nach.
»Es war bloßer Zufall, dass ich von ihm erfuhr«, antwortete Daniel. »Es war an einem Freitag, ich glaube, in der dritten Augustwoche, als ich Franziska abends vom Krankenhaus abholen wollte. Es sollte eine Überraschung werden, aber ich war zu Hause zu spät losgefahren und schaffte es nicht mehr rechtzeitig. Wenn ich sie sonst mal abholte, was gar nicht häufig vorkam, parkte ich das Auto auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus und ging zur Pforte, wo ich auf sie wartete. An diesem besagten Tag fuhr ich mit dem Auto die Straße entlang, die am Krankenhaus vorbeiführt. Und da sah ich sie, etwa 200 Meter vor dem Krankenhausparkplatz, auf der Straße stehen und sich mit einem Mann unterhalten, der ein rotes Fahrrad festhielt. Ich wunderte mich zunächst, warum sie überhaupt an dieser Stelle der Straße stand, weil sie genau in die entgegengesetzte Richtung hätte laufen müssen, um zum Bahnhof zu gelangen. Deshalb fuhr ich an ihr vorbei und parkte auf dem Krankenhausparkplatz, weil ich davon ausging, dass sie wieder zurückkommen würde. Sie kam aber nicht, und als ich etwa 20 Minuten gewartet hatte, bin ich dorthin gegangen, wo ich die beiden gesehen hatte. Aber es war niemand mehr da. Ich bin zu meinem Auto zurückgegangen, beide Richtungen abgefahren und habe auch am Bahnhof nachgeschaut, aber sie war nicht da. Ich habe sie über Handy angerufen, aber nur ihre Mailbox erreicht. Dann bin ich nervös nach Hause gefahren, weil ich dachte, sie wäre irgendwie anders gefahren, weil sie vielleicht von jemandem mitgenommen worden war. Franziska kam dann etwa eineinhalb Stunden später nach Hause und sagte, es habe einen Notfall im Krankenhaus gegeben, weshalb sie dort länger hätte bleiben müssen. Hin und wieder hatte es so etwas auch schon mal in der Vergangenheit gegeben, aber eine Verspätung von eineinhalb Stunden war ungewöhnlich. Ich sagte damals nichts dazu, obwohl ich wusste, dass sie mich
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