Irrliebe
der handschriftliche Namenszug Pierre auf dem für Dominique bestimmten Abschiedsbrief tatsächlich von Pierre Brossard stammte, konnte nicht geklärt werden. Nach der Auswertung des reichlich aufgefundenen Vergleichsmaterials, insbesondere der von Pierre Brossard unterschriebenen Zweitausfertigungen von Versicherungsverträgen und Unterschriften auf notariellen Urkunden bestand zwar eine bereits auf den ersten Blick sichtbare Ähnlichkeit zu der fraglichen Unterschrift, aber die Sachverständigen fanden auch einige Unterschiede, die jedoch keine Rückschlüsse für oder gegen die Urheberschaft von Pierre Brossard zuließen. Man stellte Abweichungen im Andruck und auch in einzelnen Schleifenführungen fest, die indes auch dadurch erklärbar waren, dass die Unterschrift eines jeden Menschen, je nach seiner aktuellen Verfassung, durchaus unterschiedlich ausfallen konnte. Der Name Pierre war zu kurz, als dass er im Vergleich mit Originalschriftproben zu sicheren Erkenntnissen hätte führen können. Stephan sah sich bestätigt, dass Pierre die an Dominique gerichteten Zeilen selbst unterzeichnet hatte und maß dem Umstand, dass Pierre persönliche Briefe üblicherweise auf dem Computer schrieb, keine entscheidende Bedeutung bei. Pierres Unterschrift auf den in der Wohnung sichergestellten Dokumenten, insbesondere einer Reiseroutenplanung aus dem letzten Sommer, war unleserlich und flüchtig. Deshalb lag nahe, dass Pierre seine Briefe an Franziska und Dominique schon der besseren Lesbarkeit wegen mittels Computer schrieb, zumal Stephan unterstellte, dass sich Pierre in einem psychischen Ausnahmezustand befand, als er diese Briefe geschrieben hatte.
Staatsanwalt Ylberi nahm Stephans Vermutungen mit hörbarer Belustigung entgegen, bevor er seinen Trumpf ausspielte: Er war noch am gestrigen Abend nach Traben-Trarbach gereist und hatte die Tür im Haus Moselgold in Augenschein genommen, an dessen oberen Rahmen sich Pierre den Kopf gestoßen hatte. Ylberi hatte die beim Einwohnermeldeamt gespeicherten Daten abgerufen. Danach war Pierre Brossard 1,83 Meter groß und hätte, wenn er den Türrahmen aufrecht gehend durchschritten hätte, sich nicht an der Stirn verletzen, sondern allenfalls auf dem Schädel eine Wunde davontragen können.
»Verstehen Sie, Herr Knobel, er hätte sich strecken müssen, um die Verletzung zu erleiden, die er so wirksam demonstriert hatte. Die Eigentümer vom Moselblick haben mir glaubhaft versichert, dass er die Wunde oben an der Stirn hatte. Sie sind sich da absolut sicher, und ich glaube ihnen. Ganz klar, Herr Knobel: Diese Verletzung kann sich Pierre Brossard an dieser Tür nicht in der behaupteten Art und Weise zugefügt haben.«
»Vielleicht stimmt die Angabe im Personalausweis nicht«, entgegnete Stephan.
»Und wieder muss ich Sie enttäuschen, Herr Knobel: Die Körpergröße stimmt. Sie entspricht auf den Zentimeter genau dem Körpercheck, den Brossard in einem Fitnessstudio gemacht hat, um ein auf ihn abgestimmtes Trainingsprogramm auszuloten. Und wir haben uns vergewissert, dass er dort auch tatsächlich vermessen wurde und nicht schlicht irgendeine Zentimeterzahl in den Erfassungsbogen eingetragen hat. Wir haben an einem Tag ziemlich viel herausgefunden, Herr Knobel!« Er schnaufte zufrieden. »Ich möchte nun Ihre Mandantin vernehmen, Herr Knobel. Einstweilen noch als Zeugin. Wir müssen wissen, inwieweit Ihre Mandantin in diese Sache verstrickt ist. Ich habe Frau Rühl-Brossard für kommenden Donnerstag, 10 Uhr, vorgeladen und ihr das telefonisch mitgeteilt. Die Dame wird aus Paris zurückkehren müssen. Die Sache eilt! Ihr Hinweis auf Moselgold war Gold wert, wirklich!« Ylberi lächelte.
Stephan beschlich das dunkle Gefühl, ungewollt seine Mandantin verraten zu haben.
15
Am Vormittag des folgenden Tages kam Dominique Rühl-Brossard in Stephans Büro. Sie trug einen weißen Hosenanzug, einen violetten dünnen Schal und trotz der diesigen Witterung eine Sonnenbrille. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Handtasche aus Krokodilleder. Die Kanzleiangestellte, die die Architektin in Stephans Mansardenzimmer geführt hatte, zog sich leise zurück.
»Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, wenn Sie mich vorzeitig aus Paris in Ihre kleine Stube zitieren«, eröffnete sie.
Sie nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in ihre Handtasche. Stephan wiederholte, dass die Staatsanwaltschaft ihre baldige Vernehmung wünsche und es ratsam sei, sich auf das Gespräch
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