Irrliebe
war auszuschließen, dass sich Franziska und ihr Partner in ihrer eigenen Wohnung trafen, die sie mit Daniel teilte, oder aber in Dominiques Wohnung im Kreuzviertel. Sie mussten sich irgendwo getroffen und miteinander geschlafen und das Gefühl gelebt haben, was sie in ihrer ersten Zeit getragen und glücklich gemacht zu haben schien. Stephan wusste, dass die Veröffentlichung des von Dominique an die Staatsanwaltschaft ausgehändigten Passfotos von Pierre in den Medien keinen Aufschluss über Pierres Aufenthaltsort ergeben hatte. Er hatte die Zeitungsartikel gelesen, in denen auf Bitten der Staatsanwaltschaft nach dem verschwundenen Pierre B. gesucht wurde. Die Ermittlungsbehörde vermied jeden Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang mit dem Tod von Franziska Bellgardt, und so waren die Artikel über Pierre B. auffallend unaufgeregt, als gehe es nur darum, einen Verschwundenen an seine überfällige Heimkehr zu erinnern. Stephan vermutete, dass die Presse, deren Redakteure hinter Pierre B. den Ehemann von Dominique erkannt haben dürften und die sich aufbauende Story nur deshalb noch nicht ausschlachteten, weil Dominiques unbestreitbare Reputation in der Öffentlichkeit noch zur Zurückhaltung mahnte. Doch es war absehbar, dass sich die Medien zunehmend auf diese Geschichte fokussieren würden, erst recht dann, wenn der von der Polizei noch nicht nach außen getragene Zusammenhang mit Franziskas Tod bekannt werden würde. Immerhin zeugte die ausbleibende Resonanz auf den Pierre Brossard betreffenden Artikel davon, dass es keine exponierten Stellen gab, an denen er sich mit Franziska längere Zeit aufgehalten hatte. Man kannte Pierre Brossard in der Öffentlichkeit nicht und man erkannte ihn nicht, weil er sich nirgends so lange oder so auffällig aufgehalten hatte, dass man sich seiner beim Betrachten des Fotos in der Zeitung erinnerte. Stephan war sich dieses Ergebnisses umso sicherer, als die Medien die Suchanzeige ein weiteres Mal abdruckten. Also lag es nahe, dass sich Pierre und Franziska an Orten aufgehalten hatten, die jenseits des Verbreitungsgebietes der örtlichen Zeitungen lagen. Ylberi war nach seinen bisherigen Ermittlungen zu sehr darauf fokussiert, dass es die Beziehung zwischen Franziska und Pierre überhaupt nicht gegeben hatte, als dass er nach Spuren suchte, die ihr Bestehen belegten. Und Stephan war sich sicher, dass die Postkarte aus Traben-Trarbach und die Schilderungen des Hotelier-Ehepaares Ylberi erst dann dazu veranlassen würden, in eine andere Richtung zu denken, wenn aus Sicht der Staatsanwaltschaft zweifelsfrei feststünde, dass es sich bei den Gästen im Moselgold tatsächlich um Franziska und Pierre gehandelt hatte. Stephan gewann bis dahin einen gewissen Vorsprung, den er für seine Mandantin nutzen wollte, die er bisher nur ein einziges Mal kurz in seinem Büro gesehen und spontan als unsympathisch empfunden hatte. Stephans These stand in Widerspruch zu derjenigen Ylberis: Er war davon überzeugt, dass es eine Beziehung zwischen Franziska Bellgardt und Pierre Brossard gegeben hatte.
13
Stephan holte Marie am frühen Abend von der Schule ab. Es hatte bereits die dritte Lehrerkonferenz im laufenden und noch jungen Schuljahr stattgefunden. Marie war mit Widerwillen hingegangen. Die Konferenzen erinnerten an nutzlose Fernsehdiskussionen, in denen die Teilnehmer einander ins Wort fielen und sich zu profilieren suchten. Marie äußerte in den letzten Wochen häufiger Zweifel, ob der Lehrerberuf für sie der richtige war. Die undisziplinierten Schüler forderten sie, Teile des Kollegiums behagten ihr nicht und einige der Eltern kritisierten Maries konservativen Lehrstil. Stephan wunderte sich, dass Marie schon nach wenigen Monaten Abwanderungsgedanken hegte und die Schüler, derentwegen sie diesen Beruf ergriffen hatte, zuweilen respektlos als Blagen betitelte. Als Marie offen mit der Idee spielte, sich mit einer Privatdetektei selbstständig zu machen, wehrte Stephan ab. Aber er merkte, dass Marie jenseits ihrer unzweifelhaft vorhandenen Betroffenheit über Franziskas Tod auch deshalb in dieser Sache besonderen Eifer entwickelte, weil die Recherchen eine willkommene Abwechslung zu dem Beruf versprachen, den Marie einst unbedingt gewollt hatte und der sie in der Realität unverhofft schnell enttäuschte.
Sie fuhren zu Daniels Wohnung in der Dortmunder Nordstadt. Hier, in der Heroldstraße, direkt an der Einmündung zu der von vielen ausländischen Geschäften und Lokalen geprägten
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