Irrliebe
Münsterstraße, hatte Franziska mit Daniel gewohnt. Sie hatte ihr ganzes Leben in dem Viertel verbracht, in dem sie einst großgeworden war, bevor ihre Eltern nach Osnabrück zogen, weil der Vater durch die Schließung eines metallverarbeitenden Betriebes in Dortmund arbeitslos wurde und in Niedersachsen eine Anstellung fand, in der er seine Fähigkeiten einbringen konnte. Franziska war damals 23 Jahre alt gewesen.
Marie und Stephan hatten sich nicht angemeldet. Daniel stand in Jeanshose und T-Shirt an der Tür. Er war unrasiert und wirkte ungepflegt. Der Besuch war ihm lästig, aber er war zu schwach, um sich zu behaupten, bemühte einige Ausreden und gab schließlich nach. Marie und Stephan folgten ihm durch einen dunklen Flur. Sie betraten das schlicht eingerichtete Wohnzimmer der kleinen Wohnung, die mit ihrem einfachen Mobiliar und in ihrer Unordnung derjenigen Maries ähnelte, die sie vor Kurzem in der nicht weit entfernten Brunnenstraße aufgegeben hatte. Marie wusste von Franziska, dass sie der Nordstadt entfliehen und in ein Viertel umziehen wollte, das ihrem Drang nach einem wirtschaftlich besseren Leben sichtbaren Ausdruck verliehen hätte. Daniel hingegen fühlte sich der Nordstadt und ihrem Ambiente auf Dauer verbunden. Franziska hatte Marie Daniel als eine Art Sozialromantiker beschrieben, der die nicht durchgehend positiven Entwicklungen im Viertel ignorierte und die zunehmende soziale Verelendung mit dem Programmsatz abtat, dass Geld nicht alles sei. Jetzt, als Marie die Wohnung sah, verstand sie, dass Franziska und Daniel längst unterschiedliche Wege eingeschlagen und die gemeinsame Basis verlassen hatten, von der aus sie einst zusammen in ihr Leben gehen wollten.
Daniel saß breitbeinig auf einem verschlissenen Stoffsofa neben einem zusammengerollten Schlafsack und sah seine Besucher eher misslaunig an. Er fügte sich wie ein beim Wettlauf geschlagener Läufer, als Stephan ihm mit knappen Worten klar machte, dass sich Daniel der Realität zu stellen und mit Fragen auseinanderzusetzen habe, die ihm über kurz oder lang auch Staatsanwalt Ylberi stellen werde. Marie hatte sich über Stephans harte Worte gewundert, die ihm so unähnlich und zugleich so wohltuend anders waren als der in einem Tiegel verschmelzende Brei seichter Ankündigungen und Wünsche, in dem die soeben zu Ende gegangene Konferenz versunken war.
Stephan nahm Daniel in die Pflicht.
»Was ich Ihnen sagen werde, ist nicht angenehm, aber ich werde es tun müssen, und ich hoffe, dass Sie mich nicht persönlich dafür verantwortlich machen, dass Sie etwas über Franziska erfahren werden, was Ihr Bild von ihr verändern wird. Zumindest aber wird es dazu beitragen, Klarheit zu gewinnen und die Dinge in einem anderen Licht zu sehen, was Ihnen aber auch helfen kann.«
Stephan saß Daniel in einem alten Korbsessel gegenüber, Marie neben ihm in einem anderen. Er schlug die Beine übereinander. Marie spürte, dass Stephan unwohl, aber entschlossen war, Daniel nicht in der Welt dümpeln zu lassen, die er selbstgefällig modelliert und die Marie nicht anzutasten gewagt hatte, als sie sich mit Daniel im Café Strickmann getroffen hatte.
Daniel rührte sich nicht.
»Franziska wollte sich von Ihnen trennen«, fuhr Stephan fort. »Sie hatte eine Kontaktanzeige im Magazin Kult-Mund geschaltet und Marie gebeten, die eingehenden Antworten entgegenzunehmen. Franziska hat sie sich dann bei Marie abgeholt.«
Stephan hielt inne. Er hatte Daniel hart ins Gesicht gesagt, was sein Bild von Franziska zerstören würde, doch Daniel blieb unbewegt.
»Wussten Sie das?«, fragte Stephan unsicher.
Daniel schüttelte unmerklich den Kopf.
»Sie hat, wie aus den aufgefundenen Briefen ersichtlich ist, über die Anzeige einen Mann kennengelernt, der womöglich in Franziskas Tod verwickelt ist«, fuhr Stephan fort.
Daniel, der bislang merkwürdig teilnahmslos stur vor sich hin gesehen hatte, hob den Kopf, nahm Stephan fest ins Visier, scheinbar bereit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, die zu offenbaren Franziska sich nicht getraut hatte.
»Und weiter?«, fragte Stephan. »Ich meine, dass Ihnen nicht entgangen sein kann, dass Franziska sich von Ihnen abgewandt hatte. Es ist doch mehr als wahrscheinlich, dass Sie sich fremd wurden.«
Marie stieß Stephan unauffällig mit dem Fuß an. Stephan fragte und schlussfolgerte wie in einem Verhör, doch Daniel hielt stand.
»Ist Franziska in der letzten Zeit, sagen wir, so etwa ab Mitte August, häufiger
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