Irrliebe
auf das dort nicht abgezäunte Gelände gezogen. An der Gebäudeecke lehnte, von der Straße aus unsichtbar, ein rotes Fahrrad. Gestern Morgen war das Fahrrad nicht mehr da. Es gibt auch keinen Arbeiter auf der Baustelle, der ein Fahrrad benutzt und es dort vielleicht am Abend vorher stehen gelassen hätte. Der Zeuge beschrieb das Fahrrad als solides Tourenrad in einem recht guten Zustand, konnte aber sonst keine Einzelheiten benennen. Mir geht dieses rote Fahrrad nicht aus dem Kopf, Herr Knobel. Es taucht in beiden Teilen der Geschichte auf. Klar, es können zwei verschiedene Räder sein, die nichts miteinander zu tun haben. Aber ich glaube es nicht. Ich bin mir sicher: M fährt Fahrrad. Meine These ist, dass M am Montag zu nächtlicher Stunde Dominique auf die Baustelle gelockt hat, um sich ihrer zu entledigen. Dann wäre er die einzige, noch lebende Zeugin los. Aber da bleiben Ungereimtheiten. M muss irgendwie von seiner Tat profitieren. Und ich sehe da noch keine befriedigende Antwort. Mein Problem ist einfach umrissen: Es gibt M. Er ist entweder nur Franziskas oder sogar zusätzlich Dominiques Mörder. Und wenn sich die Spurenlage nicht verändert, wird er ein Phantom bleiben, und ich werde irgendwann die Akte ungelöst schließen müssen.«
»Soweit sind wir lange noch nicht«, wandte Stephan ein. »Das wissen Sie auch!«
»Vielleicht denken Sie mal drüber nach«, bat Ylberi. »Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß und wie ich denke. Stellen Sie Ihre Fragen, Herr Knobel! – Überlegen Sie, ob Sie in Paris nicht irgendwelche Dinge bemerkt haben, deren Bedeutung Sie damals nicht erahnen konnten, Frau Schwarz! Ich bin auf jeden Hinweis angewiesen. Sie beide haben einen Bezug zum Fall, das sagte ich ja schon.«
Jetzt lächelte er.
»Ich habe im Moment keine anderen Ansatzpunkte«, schloss der Staatsanwalt.
Später am Abend lag die kriminaltechnische Auswertung der Untersuchung des grünen Porsche von Dominique Rühl-Brossard vor. Das Fahrzeug war danach von ihr zum Neubau der Quovoria-Versicherung gefahren worden. Es gab keine Hinweise darauf, dass sie jemand im Auto begleitet hatte. In ihrem Handy waren etliche Anrufe gespeichert, die sie erhalten oder getätigt hatte. Die Anrufe ihres letzten Tages hatten ausschließlich berufliche Gründe und waren mit ihrem Büro und der Bauleitung des Quovoria-Neubaus geführt worden und allesamt unverdächtig. Auch sonst fand man in Dominiques Sachen und auch bei einer neuerlichen Durchsuchung ihrer Privat- und Büroräume, zu denen die junge Architektin Antje Swoboda aufschließen musste, keine Hinweise auf die Person, die von Ylberi nur M genannt wurde. An Dominiques Körper konnten keine Spuren gefunden werden, die auf eine Fremdeinwirkung hinwiesen. Infolge der durch den Sturz verursachten massiven Verletzungen konnte jedoch auch ein Stoß durch eine dritte Person nicht ausgeschlossen werden. Auf dem Dach des Hochhauses fanden sich keine verwertbaren Spuren. Ylberi nahm die Befunde auf der einen Seite frustriert und auf der anderen Seite mit der Überzeugung entgegen, dass sie seine Vermutung bestätigten.
Rechtsanwalt Hubert Löffke verließ seine Kanzlei kurz vor Mitternacht. Es war selten, dass er derart lang im Büro blieb. Der Tod von Dominique Rühl-Brossard, die er intern nun wieder die Gräfin nannte, ging ihm nahe. Doch es war weniger persönliche Anteilnahme, die ihn hemmte, als vielmehr die dunkle Ahnung, sich unkritisch für eine Mandantin eingesetzt zu haben, deren Schilderung der Dinge er ungefragt übernommen und plakativ zu seiner eigenen gemacht hatte. Insgeheim litt Hubert Löffke in dieser Nacht an einem unbestimmten Gefühl, sich als Anwalt gelegentlich zum Mietling seiner Klientel zu machen und sich von den hehren ethischen Grundsätzen zu entfernen, die er zu Beginn seiner Tätigkeit als Anwalt eher floskelhaft zum Ideal seines Handelns erhoben hatte. Löffke schlief unruhig in dieser Nacht. Er ließ sich – wenn er schweißgebadet aufschreckte – von seiner rundlichen Frau Dörte trösten, die ihm Mut zusprach und ihn seiner Professionalität versicherte, die er sonst wie selbstverständlich für sich in Anspruch nahm. Löffke versuchte es erst mit Pfefferminztee, dann mit Rotwein. Er öffnete gegen zwei Uhr morgens eine Flasche Montepulciano, kostete erst ein Glas, trank zögernd ein zweites, schämte sich bei dem dritten und schlief friedlich grunzend nach dem vierten ein. Löffke ging es am nächsten Morgen schlecht. Doch die
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